Robert Kiesel singt jetzt – nach langen Jahren – wieder, wenn er draußen auf dem Acker seinen Schlepper lenkt. Wehmut ist nicht sein Ding. Aber natürlich kann man sich nicht ganz davon frei machen, wenn man nach 23 Jahren aus dem Amt scheidet. Aus einer Tätigkeit, mit der man bis ins Innerste verwoben war, bei der man für das Wohl anderer Herzblut ließ und nicht selten kämpfen musste, bis der politische Gegenwind abflaute. Am 7. Oktober 2013 endet die Legislaturperiode. Der Landtagsabgeordnete Kiesel hat dieser Tage noch sein Büro geräumt und zwei Termine wahrgenommen. Jetzt ist „seine“ Epoche München abgeschlossen.
Leicht fiel es ihm nicht, nach genau 23 Jahren und 145 Tagen loszulassen. Der Entscheidungsprozess dauerte ein Jahr. Dann war er eines Abends draußen und genoss den Sonnenuntergang, als ihm mit einem Mal klar wurde, dass er jetzt an seine Gesundheit denken und sein Leben neu gestalten muss. Bei den Wahlen im September war er zwar nicht mehr so angespannt wie sonst, innerlich ganz losgelöst ist der Privatmann vom Mandatsträger aber noch nicht. Etliches ist noch unvollendet. So wollte er zum Beispiel noch die Sanierung des Kurtheaters mit anstoßen. Auch gehen ihm noch aktuelle Projekte durch den Kopf wie das neue Kurhaushotel, das er gern noch hätte aufblühen sehen. Aber die Zukunft des Fünf-Sterne-Hauses sieht er jetzt als besiegelt an, da ist er sicher: Der Staat wird sich als Investor dreinfügen, schließlich hat er eine Verpflichtung für das Kissinger „Staatsbad“ mitten in Europa.
Eine solch lange Amtszeit geht nicht spurlos an einem vorbei. Man arbeitet im Gremium hart für Ziele, ringt immer mal um Entscheidungen, kämpft oft gegen Mehrheiten, die sich manchmal auch auflösen lassen. Es gibt unendlich viele Veränderungen, zukunftsträchtige Zäsuren, schicksalhafte Beschlüsse. Ja, man lernt die Welt und die Menschen kennen. Aber man kann sich bei alledem trotzdem treu bleiben. Kiesel ist so jemand. Deshalb wundert er sich immer wieder, wenn er auf die Spezies der „Ich-Linge“ trifft: Menschen, die offenbar als Meister auf die Welt kamen, die nicht zuallererst für die Gemeinschaft plädieren, sondern nur an sich denken und daran, wie sie möglichst schnell ein Amt bekleiden.
Diesen Ego-Trip fand Kiesel immer „erschreckend“, denn seiner Ansicht nach ist das Wichtigste, das sich ein Politiker fragen sollte: „Was kann ich tun, um für die Gemeinschaft etwas zu bewegen?“ Mehr als zwei Dekaden im Landtag haben ihn daher nicht verändert, sondern in seiner Haltung bestärkt, denn „man muss sich frühmorgens im Spiegel anschauen können“. Während seiner Münchner Zeit hat er viel gelernt, hat seinen Weg gefunden und ist auch bei Niederlagen immer wieder aufgestanden.
Eines kann er jedoch bis heute nicht akzeptieren: Dass es Politiker gibt, die „nur für das Heute“ leben und nicht nach vorn denken – in Zeiten des demografischen Wandels für ihn ein Unding. Schließlich ist der Reiterswiesener von Beruf Landwirt und muss „in Kreisläufen denken“. Zum Beispiel kann man Steuern nicht einfach ausgeben, manchmal muss man sie auch für bestimmte Dinge aufsparen.
Der 62-Jährige ist einer, der von früher weiß, wie Sparen geht. Auch ein Bundesland kann nicht immerzu Kredite aufnehmen, denn man bürdet damit der nachfolgenden Generation eine Last auf. Gerade mit seinem Appell zum Sparen hat Kiesel bei seinen Kollegen oft Kritik erregt. 1994 zum Beispiel, als er einmal im Sozialausschuss den Etat sprengte, weil man 900 Millionen Mark für freiwillige soziale Leistungen auf Pump einstellen wollte. 42 Gegenmeldungen gab es, man diskutiert heftig. Später wurden dann doch nur 500 Millionen Mark eingebracht.
Seit 1990 war Kiesel in einem halben Dutzend Ausschüssen tätig, darunter auch in den Gremien, die sich mit Grenzland-Problemen, mit der Landwirtschaft oder dem Thema Verwaltungsreform auseinandersetzen. Heute lässt er sich von seinen Kollegen gern nachsagen, dass er ihnen immer mal mit kritischen Äußerungen „die Augen öffnete“. Vor allem im Haushaltsausschuss, in dem er zehn Jahre lang mitwirkte, machte er sich wegen seiner Affinität zum Sparen unbeliebt. Das sagt er heute so nebenbei, denn für ihn ist selbstverständlich, dass ein wohlhabender Mensch nicht vom Geldausgeben reich geworden ist. Und dann kommt wieder so eine Kiesel'sche Lebensweisheit: „Der Zins frisst nämlich immer aus der Schüssel mit.“
Doch manchmal wollte Kiesel auch nicht sparen – und musste wieder kämpfen. 1994 zum Beispiel, als das Staatliche Hochbauamt nach Schweinfurt sollte, war er maßgeblich beteiligt, dass man die Entscheidung kippte. Die Behörde blieb weitere zehn Jahre, wurde dann aber im Zug der Verwaltungsreform doch abgezogen. Auch bei der geplanten Privatisierung des Vermessungsamts legte der Reiterswiesener sein Veto ein. Wahrscheinlich muss man einem privaten Eigentümer dann doch wieder staatliche Zuschüsse geben, damit er wirtschaftlich gesund bleibt, argumentierte er damals. Daraufhin wurden die Ämter Bad Neustadt und Bad Kissingen zusammengelegt, die Jobs waren gesichert.
Auch jetzt wüsste er noch so Vieles, was man politisch angehen müsste. Aber zum Glück heißt es jetzt loslassen. Er will sich bei seinem Sohn im Betrieb einbringen. Und dann geht's nach Südafrika, wo er sich mit der Landwirtschaft auseinandersetzen möchte. Darauf freut er sich schon, denn in seiner Jugend wollte er mal nach Chile auswandern. Ja, und dann wird er vielleicht noch mal „was ganz Neues“ machen. Das ist aber jetzt sein Privatvergnügen.