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WARTMANNSROTH
Der Keiler und ein Lump
Für Arthur Göbel ist Rassult ein Teil seines Lebens geworden. Seit zwölf Jahren lebt er nun schon in Wartmannsroth – in einer respektvollen Beziehung.
Von unserem Redaktionsmitglied Roland Pleier
 |  aktualisiert: 03.10.2013 16:51 Uhr

Sie hat ihn mitgebracht: Als Sonja Göbel den neugeborenen Frischling im Straßengraben bei Schwärzelbach entdeckte, war die Nabelschnur zwar noch dran, der Körper aber schon ganz kalt – eine Handvoll Tier. Die damals 21-Jährige brachte das Wildschweinbaby zum Tierarzt, päppelte es auf. Aus dem kleinen, gestreiften Etwas ist ein stattlicher Keiler geworden, der nach zwölf Jahren geschätzte drei Zentner auf die Waage bringt und wohl das einzige zahme Wildschwein in Wartmannsroth ist.

Für Arthur Göbel, Sonjas Vater, ist Rassult mittlerweile ein Teil seines Lebens geworden. Jeden Nachmittag ist der 75-jährige Bierfahrer aus Untereschenbach draußen in Wartmannsroth, wo er vor 23 Jahren einen alten Bauernhof gekauft hat – je nach Bedarf als Übergangsdomizil für seine sieben Kinder, als Werkstatt und Lager für sich selbst und als Heimat für seine Tiere.

Fotoserie
Hin und wieder verlässt Rassult sein Gatter, besucht seine Nachbarn, die Hühner. Abends kommen bis zu 20 streunende Katzen, um sich Reste von Rassults Speisen zu holen, im Winter auch Scharen von Vögeln. Die Kürbisse überlässt Göbel den Igeln, von denen bis zu acht zur nächtlichen Fütterung kommen.

Mit Schweinemilch und abgelaufener Kindernahrung aus der Babyflasche hat Sonja Göbel den Frischling aufgepäppelt. Und weil sie damals, 2001, noch im Betreuerteam des FC Untererthal aktiv war, hat sie den Säugling auch zu einer Feier ins Zeltlager mitgenommen. Klar, dass der Winzling die Attraktion war. Die gesellige Runde inszenierte eine Taufe für den bis dahin namenlosen Frischling. Der Einsatz für den Taufpaten war eine Runde Kräuterlikör. Seit dieser Jägermeister-Taufe trägt der Keiler den Spitznamen seines Paten: Rassult.

Als er ein Jahr alt war, wollte Sonja Göbel den Überläufer in den Wildpark Klaushof abgeben. Papa Arthur intervenierte: „Blödsinn, die Wildsau bleibt da. Ich fütter 'sche.“ Das tut er bis heute, gewöhnlich mit zwei Eimern abgekochten Küchenabfällen, die er sich von Gastronomiebetrieben organisiert. Der „vom Griechen“ schmeckt dem Keiler heute besser. „Da ist wohl mehr Sahne dran.“ Dennoch lässt sich Rassult – wie immer – „schö Zeit“ beim Schmatzen. Es gibt ja weder Störenfriede noch Futterneider.

Trinkwasser allerdings verschmäht er, erzählt Göbel. „Da nimmt er ein Maul voll, spritzt alles wieder raus und schüttelt den Kopf wie verrückt.“ Lieber durste er zwei Wochen, als dass er Wasser zu sich nehme. Stattdessen bekommt Rassult einen Cocktail aus Getränkeresten. Nur mit Bier muss Göbel sparsam sein. „Da darf ich ihm nicht viel geb': ein, höchstens zwei Flaschen – und dann schläft er drei Tag'.“

Generell lässt sich Rassult beim Schlafen nicht stören. „Da kann jeder 'rein und ihn kraulen“, erzählt Göbel. „Dann macht er amal die Augen auf, knurrt a weng – und dann ist's gut.“

Göbel selbst darf seinen Schützling immer kraulen, selbst beim Futtern. Wenn er sich dem mächtigen Keiler in den Weg stellt, dann bleibt auch dieser stehen. „Der ist total brav“, sagt er. „Ich darf nur nicht mit dem Besen rein – da stellen sich die Haar'.“

Ganz ruhig und unaufgeregt erzählt Göbel Episode für Episode. Auch, dass er Fleischreste aus dem Futter herausfischt. „Das ist nicht gut für die Knochen“, überträgt er die Erfahrung an seinem eigenen Körper auf sein zahmes Wildschwein. Er selbst gönnt sich allenfalls 20 Gramm am Tag. Und auf Salz verzichtet er ganz und gar, würzt stattdessen mit Meerrettich und Senf. Damit habe er sich geheilt, zeigt er sich überzeugt beim Plausch vor seiner Werkstatt.

So mit 60 Jahren, noch vor der Ära Rassult, sei er nahezu am Ende gewesen. „Hüfte kaputt, Kreuz kaputt.“ Ans Ausliefern von Getränken, womit er nach einigen Jobs im Lager Hammelburg sein Geld verdiente, war nicht mehr zu denken. „Ich konnt nicht mal mehr eine Flasche Bier halt'.“ Schon bei der Nachmusterung habe man ihm prophezeit, dass er wegen seiner Knochenkrankheit „mit 50 im Rollstuhl sitzen“ werde. Als er knapp davor war, sei ihm dann eine Kur abgelehnt worden mit der Begründung: „Bei Ihnen nutzt gar nix mehr – alle Knochen kaputt.“

Mithilfe seiner Familie hielt Göbel durch. Seit fünf Jahren meidet er jede Prise Salz. Und siehe da: „Noch nie hatt' ich so wenig Schmerzen wie heut.“ Seiner Überzeugung nach machen Salz und Gewürze die Nerven kaputt. Also fährt er weiter Veldensteiner Bier und andere Getränke aus, fährt mit seinem alten, weißen Sprinter seine Routen im Altlandkreis Hammelburg ab, bedient rund 300 Haushalte. „Nur alte Leut'“, sagt er, gleichwohl die jüngeren zwei Drittel seiner Kundschaft ausmachen.

Für die alten Kunden, so sieht Göbel sich, sei er so was wie ein Pflegedienst. Denen erzählt er die immer gleiche Geschichte: Dass er noch in 47 Jahren kommen werde, „weil ich dann 100 Jahre Bier ausfahre und 100 Jahre mit dem Teufel seiner Schwester (seiner Frau) verheiratet bin“ – und weil die Leute, die er dann noch beliefert, sich freuen würden. „Das Ausfahren ist mein Hobby“, schmunzelt er. Also fährt er weiter. Obwohl er selbst nur 270 Euro Rente bekommt, seine Frau gar nur 190 Euro, mag er keine Grundsicherungsrente in Anspruch nehmen. „Da tät ich kaputt geh', wenn ich kee Arbeit hätt'“, sagt er. Also schärft er in der Werkstatt unmittelbar neben Rassults Quartier weiterhin Kettensägen, repariert weiterhin Rasenmäher und verkauft dort weiterhin Ausschussware für Wald- und Gartenarbeiter.

Hin und wieder hat er einen Polen zu Gast, der Schnitzereien hinterlässt. Den Heiligen Florian, den sich Göbel von ihm gewünscht hatte, habe dieser sich geweigert zu schnitzen – weil ihn polnische Kirchenleute seiner Überzeugung nach übers Ohr gehauen hatten. „Dann schnitz mir halt einen Lump“, gab Göbel klein bei. Was ein Lump ist? In Deutschland einer, der gern viel Bier trinkt, sagt Göbel. In Polen einer, der viel Bier trinkt und nicht bezahlt, sagte der Pole – und schnitzte Göbel einen Lump.

Diesen Lump, mit Bierkrug und Strohhut, lässt Göbel rund um die Uhr Wache stehen in seinem Bauernhof und billigt sogar ein Foto zweier Lumpen. „Mein Führerschein war schon einmal in der Reinigung und einmal auf Kur“, räumt er unumwunden ein. „In Rente geht er aber nicht“, gibt sich der 75-Jährige geläutert.

Ja, Göbel hat einen verschmitzten Humor. Eine eigenwillige Lebensart und -einstellung. Die braucht man wohl auch, wenn man sich einen ausgewachsenen Keiler als Haustier hält. Und wenn es nach der maximalen Lebenserwartung für ein Wildschwein in Gefangenschaft geht, dann liegen noch acht Jahre vor dem ungewöhnlichen Pärchen.

 
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