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Maßbach
Ein Stück über extreme Bedrängnis und moralische Fragen
Mit „Der Flüchtling“ von Fritz Hochwälder ist das Theater Schloss Maßbach in die neue Spielzeit gestartet, die wiederum unter dem Titel „Grenzen“ steht. Die erzählte Geschichte ist aktueller denn je.
Benjamin Jorns und Anna Schindlbeck im Stück „Der Flüchtling“       -  Benjamin Jorns und Anna Schindlbeck im Stück „Der Flüchtling“
Foto: Sebastian Worch | Benjamin Jorns und Anna Schindlbeck im Stück „Der Flüchtling“
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 13.10.2024 02:30 Uhr

Aktueller könnte die Spielzeit 2024/25 im Intimen Theater kaum eingeleitet werden. „Grenzen“ heißt das Motto des Spielzeitprogramms. Zum Einstieg wurde das Kammerschauspiel „Der Flüchtling “ von Fritz Hochwälder aufgeführt. Der erzählt darin von einer Episode, die er ein seinem eigenen Leben erlebt hat.

Der 1911 als Kind einer jüdischen Familie in Wien geborene Schriftsteller, der den Beruf eines Malers und Tapezierers bei seinem Vater erlernt, aber schon sehr jung seine Lust am Schreiben entdeckt hatte, feierte als 21-Jähriger seinen ersten Erfolg, als seine Tragödie „Jehr“ 1932 in den Wiener Kammerspielen uraufgeführt wurde.

1938: Flucht in die Schweiz

Im August 1938, nach dem Anschluss Österreichs, musste er als Jude und bekennender Linker aus Österreich flüchten. Er schlug sich bis nach Vorarlberg durch, schwamm im Schutz der Nacht durch den Rhein und erreichte die Schweiz (seine Eltern wurden im KZ Theresienstadt ermordet). Und da er als Internierter in seinem erlernten Beruf nicht arbeiten durfte, schrieb er weiter. Die 50-er Jahre wurden zu seinen besten. Von Zürich aus wurde er zum „Hofautor“ des Wiener Burgtheaters. In den 60-er Jahren wurde es allmählich ruhig um ihn.

Das Stück „Der Flüchtling “ schrieb Fritz Hochwälder 1944. Auf dem Höhepunkt von Krieg, Flucht, Vertreibung und Massenverhaftungen. Er hat es im Irgendwo einer bergigen Gegend angesiedelt. Und er hat es nicht personalisiert: Es gibt den Flüchtling , es gibt die Frau und es gibt den Grenzaufseher, die, jeder für sich, in eine hochkomplexe Entscheidungssituation geraten, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt.

In heftigen Diskussionen

In einem einsamen Haus in der Nähe der Grenze taucht ein Flüchtling auf, dem es gelungen war, aus einem Gefangenen- oder Zwangsarbeitertransport auszubrechen. Er versteckt sich im Schlafzimmer. Dann schleicht sich die Frau in das Haus, weil sie Angst hat, überrascht zu werden; denn die „Schwarzen“ haben schon ihren Garten verwüstet. Als sie im Schlafzimmer den Flüchtling findet, tobt in ihr die Frage, ob sie ihn verraten oder ihm helfen soll. Ihr Gewissen entscheidet. Sie erklärt ihm den Weg zur Schlucht, auf dem er das nächste Tal und damit sicheres Terrain erreichen kann.

Aber nach kurzer Zeit ist er wieder da: Die Schlucht ist abgeriegelt. Die beiden führen heftige Diskussionen, als die Situation weiter eskaliert und den Flüchtling zur zweiten Flucht ins Schlafzimmer zwingt. Er hatte sich ausgerechnet in das Haus des Grenzwächters geflüchtet, der von der Tagschicht nach Hause kommt und sich auf einen entspannten Abend mit seiner Frau freut. Eigentlich will er nichts wissen von einem Flüchtling . Er hätte kein Problem, ihn zu melden, das gehört zu seinen Dienstpflichten. Hier tritt er ihm als menschliches Individuum gegenüber, es kommen ihm moralische Bedenken.

Ende entscheidet das Publikum jeden Abend neu

Jetzt diskutieren sie zu dritt über die Situation. Das Angebot des Flüchtlings , sich zu stellen, lehnen sie ab, weil nicht sicher ist, dass der Grenzwächter und seine Frau ungeschoren davonkommen; auch nicht, wenn sie ihn festnehmen und ausliefern. Auf Dauer verstecken können sie ihn auch nicht. Vielleicht erschießen? Der Grenzwächter verliert die Nerven und jagt den Flüchtling hinaus in die Dunkelheit, nicht ohne ihm eine Kugel hinterherzuschicken – vermutlich ins Blaue – um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Frage, wie das Ende aussehen soll, entscheidet das moralisch nicht unter Druck stehende Publikum jeden Abend neu.

Uwe Reichwaldt hat „Der Flüchtling “ für die Maßbacher Bühne inszeniert. Es ist ihm gelungen, die moralischen Fragestellungen des Stücks so spannend werden zu lassen und in ihrer beklemmenden Ausweglosigkeit erfahrbar zu machen, dass in den beiden ersten Akten sich niemand zu husten oder mit dem Programm zu spielen traute. Der dritte Akt ist bewegter. Reichwaldt überforderte die Zuschauer nicht, sondern ließ ihnen genug Zeit zum Nachdenken, zum Verarbeiten und zum eigenen Suchen nach Auswegen. Trotzdem konnte er durchgehend den Eindruck einer extremen Bedrängnis, einer hysterischen Atemnot entwickeln. Es ging nicht nur um die Rettung eines Flüchtlings , sondern auch um die eigene.

Konzentriert und plausibel

Reichwaldt hatte eine differenzierte Personenregie entwickelt, die seine drei Akteure mit großer Konzentration und Plausibilität umsetzten. Marc Marchand spielt den Flüchtling , dessen Gedanken ebenso grau sind wie seine abgerissene Uniform (Kostüme: Jutta Reinhardt). Er spielt einen Menschen, der wegen fehlender Fluchtmöglichkeiten begonnen hat, sich aufzugeben, und der sich plötzlich Gedanken macht, wie er den beiden anderen aus der Patsche helfen kann.

Am Ende traut man ihm den suizidalen Gang in die Schlucht zu. Anna Schindlbeck ist die Frau, die ihre moralischen Werte nicht verraten will, die nach dem ersten Schrecken den Flüchtling in seiner Not akzeptiert und ihm helfen will. Sie ist bereit, sich mit ihrem Mann anzulegen, mit weitreichenden Konsequenzen. Der, gespielt von Benjamin Jorns, ist die Verkörperung des typischen machtbasierten Zwiespalts: nach Dienstschluss, im Privatleben, ein liebender, humorvoller Ehemann , aber im Dienst als Grenzwächter ein gnadenloser Vollstrecker.

Vierte Rolle in Maßbach entwickelt

In Maßbach gibt es noch eine vierte Rolle: die Kontaktperson. Sebastian Worch und Anne Maar hatten in der dramaturgischen Vorbereitung diese Figur entwickelt. Das ist eine Art Moderator, der zwischen den Akten auf die Bühne kommt und mit ein paar flockigen Sprüchen die angespannte Stimmung auflockert und die Publikumsabstimmung kurz vor Schluss übernimmt. Vor allem aber ist er der „Pausenclown“.

Und so tigert Yannick Rey während der Pause über die Bühne und liest denen, die geblieben sind, vor: Aus einem Katalog von einem Zelthersteller für Flüchtlingslager. Aus einem Bericht von dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos vor fünf Jahren. Und aus einem Brief der Lagerbewohner an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen , weil fast keine der zugesagten Hilfeleistungen bisher bis zu ihnen vorgedrungen sind.

Auch das sind Menschen, die in einer schier ausweglosen Situation leben. Und plötzlich ist das Elend Flucht lokalisierbar in der eigenen Welt.

 

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