Es war nicht nur der Nobelpreis für Physik, der Jack Steinberger zum bedeutendsten Kissinger des 20. Jahrhunderts machte. Es war auch seine Lebensgeschichte. Der am 25. Mai 1921 in eine jüdische Kantorenfamilie hineingeborene Hans Jakob Steinberger erlebte die Tragödie eines mörderischen Kriegs und rassistischer Unmenschlichkeit in einer glücklichen Wendung.
Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, hatte Steinberger 1934 seine Heimatstadt verlassen. Als Bad Kissingen fünfeinhalb Jahrzehnte später wieder vorsichtig Kontakt zu dem einstigen Oberschüler aufnahm, der inzwischen ein hochdekorierter Wissenschaftler war, entstand daraus eine beispielhafte Geschichte der Versöhnung. Bis seine Kraft nachließ, war Jack Steinberger seither oft wieder in Bad Kissingen. Jetzt ist er im Alter von 99 Jahren in Genf gestorben.
"Preise brauchen wir nicht"
Auf Ehrungen und Titel hat Jack Steinberger zeit seines Lebens nicht viel gegeben. Wissenschaftler seien privilegiert in ihrer Arbeit, sagte er einmal: "Wir tun sie aus Vergnügen. Preise brauchen wir deshalb nicht." Auch als ihn seine Geburtsstadt 2006 zum Ehrenbürger erklärte, nahm er das eher mit Verlegenheit hin. Er habe "doch nur sehr wenig für die Stadt getan".
Hans Jakob Steinberger hatte aber auch nicht viel Zeit gehabt, etwas für seine Stadt zu tun. Er war 13, als er und sein älterer Bruder Herbert von den vorausschauenden Eltern in die sicheren Vereinigten Staaten geschickt wurden. Die Eltern selbst und der jüngere Bruder Rudolph kamen drei Jahre später nach.
Nobelpreis 1988 für eine Teamarbeit von 1962
In den USA waren es Fleiß und wissenschaftliche Neugier, die ihn voran brachten. Den Nobelpreis erhielt Steinberger 1988 zusammen mit Leon M. Ledermann und Melvin Schwartz für ein Experiment, das sie 1962 am Brookhaven National Laboratory im US-Bundesstaat New York vorgenommen hatten. Im Ergebnis führte es zur Entdeckung eines neuen Elementarteilchens, was wiederum eine neue Theorie zum Aufbau der Materie ermöglichte.
Gelebt und gearbeitet hatte Steinberger seit 1968 bereits wieder in Europa. Er betrieb physikalische Grundlagenforschung im CERN bei Genf in der Schweiz. Noch bis ins hohe Alter ging er dort täglich in sein Büro.
Brücken der Verständigung
Das Renommee des ausgezeichneten Wissenschaftlers war Anlass für Bad Kissingens damaligen Oberbürgermeister Georg Straus, im Gespräch mit dem verlorenen Sohn der Stadt Aussöhnung zu suchen. Die Leistung beider war, dass der Versuch gelang. Jack Steinberger fasste Vertrauen in seine Geburtsstadt. Und das offizielle Bad Kissingen freute sich über die bescheidene Herzlichkeit Steinbergers, die Brücken der Verständigung über die Abgründe der gemeinsamen Geschichte möglich machte.
Jack Steinberger kam gerne, er hielt Vorträge, und es war nicht zu übersehen, dass er stets nicht nur Wissenschaftler gewesen war, sondern auch ein kritischer politischer Geist. Der Physiker ging auf Demonstrationen, schrieb mahnende Briefe an amerikanische Präsidenten und deutsche Außenminister. Und er setzte sich als Mensch und Wissenschaftler für Lösungen des globalen Problems des Klimawandels ein, das ihn nach der Teilchenphysik am meisten beschäftigte.
Namenspatron seines Gymnasiums
Bad Kissingen würdigte Jack Steinberger nicht nur mit Ehrenbürgerwürde und diversen Geburtstagsempfängen. Das Gymnasium, dessen Vorgängerschule der junge Hans Jakob selbst besucht hatte, trägt seit 2001 seinen Namen. Die Benennung nach einer lebenden Person war – ausgerechnet wegen der schlechten Erfahrungen mit unwürdigen Namenspatronen aus den dunklen Zeiten des Naziregimes – damals unüblich und gar nicht so leicht. Die Benennung war aber eine richtige Entscheidung: Denn Jack Steinberger war nicht einfach nur der bedeutendste Kissinger des 20. Jahrhunderts. Über seinen Tod hinaus bleibt er einer, an dem sich junge Menschen auch im 21. Jahrhundert orientieren können.