Der 30. Juni 2020 markiert auf ewig den Wendepunkt im Leben von Andreas Sandwall. Der damals 49-Jährige leitete die Gemeinderatssitzung in Bad Bocklet. „Plötzlich schmerzte mein Genick.“ Irgendwas verrenkt, tat der Bürgermeister den Schmerz erst ab. Doch der Druck steigerte sich. In der Pause brach ihm der Schweiß aus, „mir wurde heiß und kalt“, er spürte: Mit mir stimmt etwas nicht mehr – überhaupt nicht mehr.
„Ruft einen Arzt,“ sagte er noch – dann wurde es dunkel. Vor den Augen seiner Kollegen brach er zusammen. Diagnose: Hirnblutung. Ein geplatztes Aneurysma, eine Aussackung an einer Arterie war gerissen. Passiert das ungünstig im Kopf, liege die Überlebensrate bei drei Prozent, zitiert Sandwall später einen seiner Ärzte. Und es bleibt die bange Frage, wie ein Überleben aussieht.
Per Hubschrauber in die Klinik
Das Happy End voraus: Andreas Sandwall, jetzt 50 Jahre alt, ist nun wieder Bürgermeister von Bad Bocklet und er sieht 14 Monate später aus wie immer. Er redet wie immer. Denkt wie immer. Geht wie immer. „Das ist ein Wunder“, sagt er. Und das sagen alle Ärzte, die er in den letzten 14 Monaten kennengelernt hat – das waren einige.
Was Sandwall erzählt, hat er nicht alles selbst erlebt. Es wurde ihm nach dem Koma beschrieben. „Die Ratskollegen riefen sofort den Notarzt, Dr. Joachim Hepp aus Oberthulba hatte Dienst. Und er hat glücklicherweise sofort erkannt, dass im Hirn ein Blutgefäß geplatzt war.“ Hepp rief einen Hubschrauber, mit dem wurde Sandwall nach Würzburg in die Uniklinik geflogen.
Keiner wusste, ob er es schafft
Dort wurde ein Loch in seine Schädeldecke gebohrt, sodass das aufs Gehirn drückende Blut abfließen konnte. Dann hieß es – warten. Warten darauf, dass sich sein Zustand stabilisierte. Darauf, dass er aus dem künstlichen Koma zurückgeholt werden kann. „Das war die schlimmste Zeit für meine Familie.“
Was würde seine Frau zu dieser Zeit sagen, wenn sie bei dem Gespräch anwesend wäre? „Sie würde weinen“, sagt er und seine Augen füllen sich mit Tränen. Keiner wusste, ob Andreas Sandwall überleben würde. Und wenn – wie.
Eines der prominentesten Beispiele von Menschen, die ein geplatztes Hirn-Aneurysma überlebt haben, ist die ehemalige Fußballkommentatorin Monika Lierhaus. Eine Operation sollte eigentlich verhindern, dass ihr Aneurysma platzt. Doch die OP ging schief. Monatelang lag sie im Koma, kämpfte sich mühsam zurück in ein ganz anderes Leben.
Der Pfarrer war bereits dazu gerufen worden
Es ging Andreas Sandwall so schlecht, dass der Pfarrer an seinem Bett war. Eine Lungenentzündung quälte ihn. Freunde fuhren seine Frau jeden Tag nach Würzburg. Jeden Tag saß sie oder auch die drei Kinder (12, 16, 20) an seinem Bett, erzählten vom Leben da draußen und zuhause. Seine Frau wurde unfreiwillig Zeugin davon, wie sich am Nachbarbett eine Familie von einer jungen Mutter verabschiedete – sie hatte die gleiche Diagnose wie Andreas Sandwall und überlebte nicht. Wie quälend müssen diese Tage für die Familie gewesen sein?
Andreas Sandwall wurde nach Bad Neustadt verlegt, noch immer ohne Bewusstsein. Tochter Leni (16) spielte ihm Querflöte vor – in der Hoffnung, die Töne erreichen den Musikliebhaber. Fünf Wochen lang kam keine Reaktion des Vaters. Sie spielten ihm Musik ein, setzten ihm Kopfhörer auf – Blasmusik, Andreas Sandwall steht unter anderem auf Blech und Pauken.
Und tatsächlich, nach fünf Wochen: „Ich wurde wach und hörte die Melodie von ,Der Böhmische Traum'.“ Obwohl, wach beschreibt seinen Zustand nur unzureichend. „Ich dachte, ich sei allein auf einem Kreuzfahrtschiff.“ Es gibt schlimmere Halluzinationen im sogenannten „Durchgangs-Syndrom“, wenn Menschen aus komatösen Zuständen erwachen. Dass er allerdings ohne neurologischen Schäden erwachte, dass ihm nur die Koma-Wochen in seiner Erinnerung fehlen, dass er gehen, stehen, denken und wieder sprechen kann, darf ruhig als großes Wunder bezeichnet werden.
Der Mann war nach fünf bewegungslosen Wochen kaum wiederzuerkennen. Fotos aus der Akutphase zeigen ein schmales Bündel, umringt von Schläuchen und Kabeln. „Wenn ich mir die Fotos anschaue, wird mir erst klar, wie groß meine Hilflosigkeit und wie schmal der Grad zwischen Leben und Tod war.
Zurück ins Leben
Nach seiner schweren Hirnblutung wollte der frühere Fußballspieler Andreas Sandwall zurück ins Leben. „In Bad Neustadt begann die Frühreha. Erste Schritte am Rollator – ich fühlte mich älter als 80.“ Doch er wollte, wollte, wollte, trainierte einen Muskel nach dem anderen, machte jede Therapie mit. „Auch die Therapie mit einem riesigen Neufundländer.“ Der ausgebildete Hund sollte Geborgenheit, Wärme, Sicherheit geben. „Ich hab mich mit dem Kopf auf den liegenden Hund gelegt – ja, es ist toll, die Wärme, das Fell zu spüren, den Herzschlag zu hören.“
Seinen 50. Geburtstag feierte er mit seiner Familie bei einem Essen in Bad Neustadt, die kleine Sause, die seine Aschacher Blaskapelle vor dem Krankenhaus mit Pauken und Trompeten geplant hatte, fiel wegen Corona aus. Erst am 22. Oktober 2020 wurde er entlassen und durfte auch nach Hause.
Bis Januar 2021 kämpfte er sich mit verschiedenen Übungen zuhause weiter, endlich war auch das Loch in seinem Hals, das durch die künstliche Beatmung entstanden war, verheilt – jetzt konnte er zur „richtigen“ Reha. Jedoch: Die Techniker Krankenkasse lehnte seinen Reha-Antrag ab. „Das ist für mich immer noch unglaublich.“ Nach etlichen bürokratischen Hürden schaffte er es doch noch für vier Wochen ins Haus „Roter Hügel“ nach Bayreuth.
Gehirnjogging war wichtig
Sandwall ist den Therapeuten dort „unendlich“ dankbar, denn die Hauptsache musste noch trainiert werden: sein Gehirn. „Ich litt unter Konzentrationsschwierigkeiten.“ Doch so ein Hirn, das lässt sich trainieren, „und das war sehr anstrengend“. Es sei – vereinfacht – so, wie wenn man den ganzen Tag das Kinderspiel „Ich packe meinen Koffer“ spielen muss, allerdings mit Spielregeln für Erwachsene. Irrsinnige Wort-Ketten, Kombinationen, ob in Wort oder Zahl, mussten die Patienten sich merken.
Jeden Tag also Gehirnjogging, bis Sandwall seinen größten Wunsch erfüllen konnte: Er wollte seinen Führerschein zurückhaben. „Mit solch schweren Kopfverletzungen darfst du erst mal kein Auto fahren. Ich musste einen Test machen, der es wirklich in sich hatte.“ Andreas Sandwall bestand „und damit konnte ich wieder am Leben teilnehmen“.
Seit 5. August ist er wieder zurück im Rathaus. „Es ist toll zu sehen, wie meine Vertreter Norbert Borst und Uto Schmitt alles hervorragend erledigt haben – und auch die Verwaltung hat in meiner Krankheitsphase Großartiges geleistet.“
Äußerlich nur eine Narbe
Was ihm Auftrieb gab: „Die vielen Genesungswünsche – das hat unheimlich gutgetan. Da habe ich auch erfahren dürfen, dass meine Arbeit einen Wert hat und dass ich weiß, für wen ich die Arbeit mache. Das ist ein schönes Gefühl.“ Äußerlich zeigt nur eine blasse Narbe am Haaransatz von dem Drama, das er hinter sich hat. Innen ist Andreas Sandwall noch voller Eindrücke, wenn er aus seiner schlimmsten Zeit im Leben erzählt. „Aber jetzt bin ich wieder da – das Leben ist noch nicht vorbei.“
„Ich danke allen, die mir das ermöglichten. Allen voran meiner Frau und meiner Familie, mit der ich jetzt mehr unternehme als früher. Denn wir wissen nie, ob es das letzte Mal sein kann. Mir wurde geschenkt, was andere nicht mehr haben – das Leben.“
Ich würde gerne wieder mal mit ihm auf 2000 m ein zünftiges Weissbier trinken.
Ich hoffe darauf, dass es wieder einmal möglich werden darf.
Kopf hoch, Du hast soviel geschafft, den "Rest" bezwingst Du auch noch. Meine Frau und ich haben uns sehr über diesen Artikel gefreut und wünschen alles Gute!
Danke für den Mut, es der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Wir haben sehr oft an ihn gedacht.