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Bad Brückenau
Zum Schluss rief das Orchester laut “Hey“
Dass Polen mehr Komponisten hervorgebracht hat, als Frédéric Chopin, erfuhr das Publikum beim Konzert des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau.
Alexej Gorlatch war kurzfristig für die erkrankte Claire Huangci eingesprungen.       -  Alexej Gorlatch war kurzfristig für die erkrankte Claire Huangci eingesprungen.
Foto: Gerhild Ahnert | Alexej Gorlatch war kurzfristig für die erkrankte Claire Huangci eingesprungen.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 05.11.2024 17:16 Uhr

Das Thema des Herbstkonzerts des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau war kurz und knackig, und man wusste sofort, worum es ging: „Polen“. Natürlich hatte Sebastian Tewinkel, der Chef des Orchesters, nicht ganz unrecht, als er die Wahl des Themas damit begründete, dass sich in Deutschland der Fokus der Bekanntheit vor allem auf Frédéric Chopin richte, dass ansonsten aber nur sehr wenige Namen einem größeren Publikum bekannt seien, weil sie zu selten auf den Programmen erscheinen.

Weitere Namen

Obwohl: So ganz spontan fallen einem auch andere Namen ein, die man mit konkreten Aufführungen verbinden kann: Krzysztof Penderecki , Witold Lutoslawski, Stanislaw Moniuszko, Grazyna Bacewicz, Wojciech Kilar , Piotr Skweres, Grzegorz Fitelberg, Wanda Landowska , Ignaz Paderewski und noch andere. Und man kennt ja auch nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus der unendlich langen Liste der deutschen Komponisten .

Die Mutter war gerade gestorben

Aber es war natürlich interessant, auch einmal Werke aus Polen zu hören, von denen auch die Brückenauer noch nie etwas gehört hatten wie etwa Präludium du Fuge für Streichorchester op. 85 von Moritz Moszkowski (auch er hierzulande nicht ganz unbekannt). Da das Werk kurz nach dem Tod der Mutter des Komponisten entstanden ist – auch seine Frau hatte ihn gerade verlassen – ist das Präludium erwartungsgemäß melancholisch, mit gedeckten Klangfarben.

Emotionale Melodie

Es sind lange Töne, die leise aus der Tiefe aufsteigen und in einem ganz langen, sehr genau musizierten Crescendo sich zu einer emotionalen Melodie entwickeln. Das Thema der Fuge spielten die Streicher fast ein bisschen ruppig, als wolle sich der Komponist von der Melancholie frei machen, was nebenbei für eine ausgezeichnete Durchhörbarkeit sorgte. Aber falsch vermutet: In der Mitte der Fuge kehrte die Traurigkeit zurück.

 Chopin zieht immer

Klar, ohne Frédéric Chopin ging es auch bei diesem Konzert nicht. Denn der Name Chopin zieht immer. Auf dem Programm stand, entgegen früheren Ankündigungen, das Klavierkonzert Nr. 2 f-Moll (statt dem Konzert Nr. 1 e-moll). Und es spielte krankheitsbedingt auch nicht Claire Huangci, sondern ihr Kollege Alexej Gorlatch. Der konnte kurzfristig einspringen.

Bekannter aus dem Klavier-Olymp

Die Kissinger kennen ihn bereits seit 2006 als Teilnehmer des Klavier-Olymps. Damals erreichte er „nur“ den 3. Platz, weil er mit einer Grippe angereist war.

Dass sicher schon mehr möglich gewesen wäre, zeigte sich fünf Jahre später, als er in München beim ARD-Wettbewerb 2011 im Fach Klavier nicht nur den 1. Preis, sondern auch fast alle Sonderpreise gewonnen hat. Damit begann nicht nur seine internationale Karriere, sondern der heute 35-Jährige wurde auch Professor an mehreren deutschen Hochschulen. Die Grippe hat ihm also nicht geschadet.

Gewöhnungsbedürftig

Zugegeben: Chopins f-moll-Konzert in der (historisch belegten) Fassung für Streichorchester und Klavier ist gewöhnungsbedürftig. Denn man vermisst sozusagen das halbe Orchester, weil man sich nicht ganz davon frei machen kann, den gesamten Holz- und Blechbläserapparat und sogar die zwei Pauken.

Spannende Dialoge

Aber letztlich konnte man sie alle vergessen, denn Sebastian Tewinkel hatte mit seinen Leuten einen wirkungsvollen Ersatz erarbeitet. Durch starke Dynamisierungen und ebensolche Kontraste in den Klangfarben konnte er innerhalb der Streicher so etwas wie Dialogstrukturen erzeugen. Und das machte die Sache auf eine neue Art spannend.

Alexej Gorlatch langte hin

Das Problem war Alexej Gorlatch. Man hatte den Eindruck, dass er die Streicherfassung des Konzerts zum ersten Mal spielte. Er langte hin, als hätte er das volle Orchester um und gegen sich, er wehrte sich gegen Übermächte, die es gar nicht gab. Es wäre schön gewesen, wenn er sich auf den kammermusikalischen Ansatz des Orchesters eingelassen hätte, wenn er ab und zu auch mal wirklich leise und auf das Orchester reagierend gespielt hätte.

Manuell war das, was er tat, tadellos. Aber er hätte nicht nur den Diskurs mit dem Orchester, sondern auch seinen eigenen Part stärker, weniger routiniert gestalten können, hätte Übergänge oder harmonische Raffinessen stärker gestalten und die Musik dadurch stärker beatmen können. Das Orchester machte ihm das vor.

Hierzulande kaum bekannt

Der zweite Teil begann mit einem hierzulande wirklich kaum bekannten Komponisten: mit Mieczyslaw Karlowicz und seiner Serenade für Streichorchester op. 2. Der Ansatz des Komponisten ist da nicht ganz leicht zu fassen. Einerseits trat Karlowicz 1906 der Künstlergruppe „Junges Polen“ bei, die ein Jahr zuvor gegründet worden war. Andererseits zeigt er sich in der Serenade nicht als Neuerer, sondern als volksmusikalisch orientierter Spätromantiker reinsten Wassers. So etwas gab es schon vor der Gruppe.

Die viersätzige Serenade , die den Ablauf eines offenbar erfolgreichen Liebeswerben erzählt, ist eine nicht unpfiffige Musik. Und wenn man das zeigen kann, wie die Brückenauer es taten, kann sie auch ihren Charme und ihre Anziehungskraft entwickeln.

Viele Wiederholungen

Aber noch schöner wäre es gewesen, wenn Karlowicz noch ein paar mehr melodische Ideen gehabt hätte, wenn er seine Serenade nicht mit vielen Wiederholungen auf Länge hätte bringen müssen. Vielleicht wird sie deshalb so selten gespielt.

Hey!"

Der Schluss war überraschend: Wojciech Kilars einsätziges „Orawa“ für Streichorchester – ein spannendes, rund zehnminütiges Stück Minimal Music, das mit Rhythmus pur beginnt und über eine meditative zu einer melodischen Phase findet – bis ein kollektiv gerufenes „Hey!“ des gesamten Orchesters dem Ganzen ein Ende macht.

Leider. Denn das Stück war mitreißend konzentriert gespielt, dass man von der Spannung gefangen und festgehalten wurde und von der Suche nach geringfügigen Veränderungen. Das hätte ruhig länger dauern können.

Zugabe

Aber es gab ja noch eine Zugabe: den „Walc Barbary“ („Walzer der Barbara“) von Waldemar Kazanecki aus dem Film „Noce i dnie“ (Nächte und Tage“), der Antwort Polens auf „Vom Winde verweht“. Der Film, den Jerzy Antczak 1975 gedreht hat, wurde im selben Jahr für den Oscar als „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert. Bei den 26. Internationalen Filmfestspielen Berlin 1976 gewann Jadwiga Barańska den Silbernen Bären als „Beste Schauspielerin“. Da konnte das Orchester zum Schluss wunderbar ansteckend in den schönsten Walzerklischees schwelgen.

Ein sehr schönes Projekt des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau:

 
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