Sogar nach 37 Jahren kann man beim Kissinger Sommer noch überraschende Entdeckungen machen, und das nicht nur, was die Künstler oder die Musik betrifft. Sondern auch bei den Instrumenten. Da tauchte jetzt im Konzert, das der Cembalist und Dirigent Andrea Marcon mit seinem Ensemble „Venice Baroque“ in der bis unters Dach besetzten Erlöserkirche gab, ein Instrument auf, das hier beim Festival noch nie zu sehen ist und sich sehr rar macht: das Violoncello da spalla.
Der Anblick und die Spielweise sind gewöhnungsbedürftig. Es sieht aus wie eine aus der Façon geratene Viola mit fünf Saiten, allerdings noch größer und runder und, um den Resonanzraum zu vergrößern, um einiges höher, sodass man sie nicht mehr unter das Kinn klemmen kann.
Eine Drehung um fast 90 Grad
Man hängt es sich um den Hals wie eine Gitarre, allerdings mit zu kurz geratenem Riemen, sodass das Kinn doch auf der Zarge, der Seitenwand, aufliegt – was die Bewegungskontrolle beim Spielen erleichtert. Man streicht mit dem Bogen nicht wie beim Violoncello von links nach rechts und zurück, sondern wegen der Drehung um fast 90 Grad von oben nach unten. Und damit kann man die gesamte Celloliteratur rauf und runter spielen.
Johann Sebastian Bach soll das Teil erfunden und damit seine Cellosuiten gespielt haben. Es ist schnell wieder von der Bildfläche verschwunden, als die Konzerträume größer und die Lautstärke wichtiger wurden. Immerhin drei Exemplare aus der Barockzeit haben in Museen überlebt, etwa in Brüssel, wo der Geiger Sigiswald Kuijken mit einem Geigenbauer die Wiederbelebung betrieb.
Virtuoses Feuer und Glanz
Wenn man an Bachs Suiten dachte, konnte man sich einiges an virtuosem Feuer und Glanz erwarten, denn das Violoncello da spalla scheint sich leichter zu spielen als das größere Violoncello mit seinen längeren Wegen und dickeren Saiten.
Der stieg ein in das Geschehen mit Antonio Vivaldis Konzert für zwei Violoncelli, Streicher und Basso continuo g-Moll RV 531. Das war interessant, weil das zweite Cello, gespielt von Irene Liebau aus dem Ensemble, tatsächlich ein „richtiges“ Cello war und unmittelbare Vergleiche erlaubte.
Wie bei Pingpong hin- und herhören
Virtuos und agogisch schenkten sich die Beiden nichts in den schnellen Ecksätzen mit ihrer imitatorischen Struktur und ihren mitunter komplizierten Verzierungen. Da konnte man sozusagen pingpongmäßig hin und herhören. Und im langsamen, sanglichen Satz kam sogar noch das zweite Continuo-Cello als dritte Stimme dazu – eine wunderbare Verdichtung.
Der Unterschied lag im Klang, und der war ein bisschen ungerecht. Denn das in den Höhen etwas sprödere Violoncello da spalla wirkte lockerer und beweglicher als das sonore Violoncello, obwohl das keineswegs der Fall war. Aber auch das sorgte – neben dem tollen Zugriff der Solisten und des Ensembles, für Spannung
Tugend italienischer Barockmusiker
Eröffnet hatte Venice Baroque das Konzert mit Vivaldis Sinfonia G-Dur RV 149 und die Tugenden der italienischen Barockmusiker demonstriert: mühelos virtuos, stark in den Rhythmisierungen, jeden Spannungsabfall fürchtend und nach dem Grundsatz streichend: lieber ein unschöner als ein unklarer Ton. Da gab es kein verschleierndes Legato oder Vibrato.
Etwas schade, dass Andrea Marcons Cembalo akustisch etwas unterging, dass sich nur die perkussiven Aspekte durchsetzten. Aber das ist ja nichts Schlechtes für das Zusammenspiel.
Ein fabelhafter Geiger
Mit dieser Sinfonia und dem Cello-Doppelkonzert im Ohr hatte es das Violinkonzert B-Dur D. 117 von Giuseppe Tartini schwer. Klar, dass der Mann aus Piran ein fabelhafter Geiger gewesen sein muss, der, wie auch der 14 Jahre ältere Vivaldi, die virtuosen Möglichkeiten oder Anforderungen – je nachdem wie gut man ist – nach vorne gebracht hat.
Für Sergej Malov, jetzt mit der Violine, waren das Möglichkeiten, die er begeisternd souverän annahm. Das war ein regelrechtes Abfeuern von virtuosen Salven; und trotzdem nutzte er jede Möglichkeit zur Gestaltung der barocken Terrassendynamik, zu rasenden Arpeggien, zu waghalsigen Verzierungen, aus denen er auch immer wieder herauskam und zu einem fabelhaften Zusammenspiel mit dem sensibel reagierenden Ensemble.
Vivaldis Ideen
Aber wer dessen Part hörte, merkte schnell, dass Vivaldi erheblich mehr Ideen hatte. Das galt auch für die Sonata für Streicher und B.c. G-Dur von Baldassare Galuppi , die sich wegen der zupackenden Interpretation lohnte.
Und dann noch zweimal Sergej Malov: zunächst mit Tartinis Cello (da spalla)-Konzert A-Dur GT 1.A28, einem Werk, das sich, virtuos sehr stark angereichert, konstruktiv aber ein bisschen schwer tut, in Schwung zu kommen. Aber überraschenderweise bekam die Musik im langsamen Satz plötzlich orientalisches Aroma – eine interessante Variante.
Und zum Schluss Vivaldis berühmtes Violinkonzert G-Dur mit dem schönen Beinamen „Grosso Mogul“. Da ließen sich von allen noch einmal alle Register der „Italianità“ ziehen, alle Tugenden der Artikulation, der Virtuosität und des perfekten Zusammenspiels ziehen. A durfte sogar ein bisschen Pathos ins Spiel kommen.
Zwei Zugaben
Zwei Zugaben gab’s: Bachs Sarabande aus der 4. Suite für Violoncello solo BWV 1010 und, mit dem Ensemble, den dritten Satz aus dem „Sommer“ von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“. Den hatte Anne-Sophie Mutter mit ihren Virtuosi auch gespielt.
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