
Ein leichter Schritt ist es nicht, nach 147 Jahren die Familientradition zu beenden, gesteht Nicole Lehman-Schöfer. Sie und ihre Mutter Ingeborg Lehmann haben beschlossen, das alteingesessene Textilgeschäft Gutmann zu schließen. Doch neben dem weinenden Auge gibt es auch ein lachendes. Denn es entsteht kein weiterer Leerstand in der Stadt. Zum 1. Juli soll in den Geschäftsräumen am Anger ein neues Bekleidungsgeschäft für Damen- und Herrenmode einziehen. Die Tatsache, dass ein Interessent für den Laden da ist, habe die Entscheidung beschleunigt, das Geschäft aufzugeben. Ansonsten hätte es wohl noch etwas länger gedauert, meint Nicole Lehmann-Schöfer.
Momentan läuft der Räumungsverkauf. Er bietet auch die Möglichkeit, sich von den langjährigen Kunden zu verabschieden. Die haben das Einkaufen auch gerne mit einem kleinen Plausch über Münnerstadt und dies und das genutzt.
54 Jahre im Betrieb
„Irgendwann einmal muss man ja in den Ruhestand“, sagt Ingeborg Lehmann lachend. Sie ist jetzt 81 Jahre alt. Da könne man ans Aufhören denken. Noch immer ist sie in den Nachmittagsstunden im Geschäft, während ihre Tochter zu den Morgenöffnungszeiten bedient.
Ingeborg Lehmann kam bereits 1969 in den Betrieb; sie hatte einen Neffen der Betreiberfamilie Gutmann geheiratet. Sie denkt heute noch gerne daran zurück, wie sie zusammen mit Olga Gutmann die Modemesse in München besuchte. Olga Gutmann sei eine gute Lehrmeisterin gewesen, meint Ingeborg Lehmann. Sie berichtet, dass viele Jahre lang junge Frauen eine Ausbildung bei Gutmann absolvierten. Für ihre Tochter Nicole Lehmann-Schöfer war das Geschäft immer ein Teil ihres Lebens. Diese erinnert sich an die Nachmittage, an denen sie mit ihren Eltern bei Olga, Frieda und Max Gutmann zum Kaffee eingeladen war. „Da wurde Wert auf Etikette gelegt“, sagt sie. Es wurden die guten Kleider angezogen. Der Knicks zur Begrüßung war ganz normal. Und bei Tisch musste man als Kind stillsitzen.
Schon als Kind im Laden
Schon als Schülerin hat Nicole Lehmann-Schöfer im Betrieb mitgeholfen. Das war selbstverständlich. Und nach Abschluss der Schule hat sie ihre Lehre zur Bürokauffrau bei Gutmann absolviert. Computer kannte man nicht. Nachmittags um 15 Uhr gab es immer Kaffee mit einem süßen Gebäckteilchen.
Inhaber seit 1988
Nachdem mit Olga Gutmann 1988 die letzte der vier kinderlos gebliebenen Geschwister Gutmann verstorben war, hat Ingeborg Lehmann das Traditionsgeschäft mit der Tochter weitergeführt. Einige Jahre später entschieden sich Mutter und Tochter , die Ladengröße deutlich zu reduzieren.
Im größeren Teil des Textilhauses wurde die Firma Schlecker mit einem Drogeriemarkt ansässig. Heute befindet sich dort der Computer Outlet G3. In einem abgetrennten Teil des Anwesens führten Mutter und Tochter den Betrieb in kleinerer Form weiter. Textilwaren, Wolle, Kurzwaren, Stoffe, Nähzeug, Taschen und Dekoartikel gehören zum Sortiment. Lange Jahre hatte man einen Quelle-Shop und eine Reinigungsannahme. Die Bestellmöglichkeit für andere Warenhäuser gibt es bis heute, ebenso den Goldankauf.
Im Juli Neueröffnung
Nicole Lehmann-Schöfer ist froh über den nahtlosen Übergang zum neuen Geschäftsangebot. In den nächsten Wochen wird der Räumungsverkauf laufen. Danach gibt es eine kurze Umbauphase und ab 1. Juli wollen die Nachfolger eröffnen. Einen Namen für das Geschäft gibt es bereits: Power-of-Street-Fashion. Im Angebot soll stylige Mode für junge und jung gebliebene Männer und Frauen sein. Der Stil spreche auch die Biker- und Tätowierszene an. Verschiedene Modemarken seien in der Region bislang nicht zu finden, erklären die künftigen Betreiber.
Blick in die Vergangenheit
Mit einem neuen Modegeschäft bleibt somit auch die textile Ladentradition erhalten. Diese begann 1876, als Selly (Seligmann) Gutmann und seine Frau Sophia ein Nähmaschinengeschäft und somit das spätere Bekleidungshaus am heutigen Standort eröffneten. 1891 heiratete Selly Gutmann dann Margarethe Michel, die römisch-katholisch getauft war. Selly Gutmann wird im Familienstammbogen als freigläubig geführt, war aber jüdischer Abstammung, ist auf der Homepage Alemannia-Judaica nachzulesen. Die elf Kinder wurden katholisch getauft.
Schwere Jahre im Dritten Reich
Die Nazi-Diktatur war deshalb für die Familie eine dunkle Zeit. SA-Leute hätten zeitweise versucht, einen Boykott durchzuführen, heißt es bei Alemannia Judaica. Dort ist zu lesen, dass der damalige Bürgermeister wohl seine schützende Hand auf die Gemeinde gelegt habe und für die Familie Gutmann so Schlimmeres verhindert habe. Doch ohne Tragik blieb die NS-Zeit auch für die Familie nicht. Leopold Gutmann, einer der Söhne Selly Gutmanns, wurde deportiert und in Auschwitz ermordet.
Ingeborg Lehmanns Schwiegervater, der Gymnasiallehrer Otto Lehmann , wurde in der NS-Zeit mit Berufsverbot belegt, da er sich nicht von seiner Frau Jette, geb. Gutmann, trennte.
Lesen Sie auch



Seine Frau hieß Margarethe, war eine geb. Michel und röm.-kath. Glaubens. Somit sind alle Kinder keine Juden mehr im jüdischen Sinn. Das hat natürlich die Nationalsozialisten nicht so interessiert.
Hinweis: Sellys Großvater, nach dem er benannt ist, war u. a. schon Kaufmann und auch jüdischer Lehrer, der Trauungen im Auftrag des Oberrabbiners vornahm. Ironie der Geschichte, dass sein Enkel sich vom Judentum abgewandt hat.