
Nein, mit vorweihnachtlichen Gedanken und einem frühzeitigen „Wir warten aufs Christkind“ hatte das Winterkonzert des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau unter der Leitung seines Chefdirigenten Sebastian Tewinkel nichts zu tun, auch wenn der Titel „Folklore“ die Erwartungen fast ein bisschen in diese Richtung lenkte. Aber wenn unter diesem Etikett die Namen Franz Schubert und Antonín Dvořák genannt werden, dann kann man davon ausgehen, dass die heimattümelnde Folklore bestenfalls als thematischer oder rhythmischer Impulsgeber diente.
Wie auch bei dem zentralen Werk des Konzerts , „Nola“, das der tadschikische Komponist Benjamin Yusupov (*1962) im Auftrag des Schweizer Flötisten Matthias Ziegler 1994 geschrieben hat. „Nola“ ist ein Begriff aus dem Persischen und lässt sich übertragen mit „Sanftheit“, „winzige Klangveränderung“ oder „Ausschmückung eines Klangs.“ Das klingt zunächst harmlos.
Aber „Nola“ ist ein Konzert für verschiedene Flöten und Streichorchester. Zum Einsatz kommt aber nicht nur eine normale Sopran-Traversflöte, sondern auch eine mit Membran und damit mit besonderen Klangfarben, dazu eine Bass- und eine Kontrabassflöte – zwei Instrumente, manns- beziehungsweise übermannshoch, die aussehen, als kämen sie aus einem Installationsbetrieb.
Je tiefer die Flöte, desto mehr Luft ist nötig
Schon das macht deutlich, warum das Werk ein ziemliches Nischendasein führt. Denn man muss erst einmal einen Solisten finden, der diese vier Instrumente nicht nur gleichzeitig zur Verfügung hat, sondern sie auch souverän beherrscht. Je tiefer die Flöte, desto mehr Luft muss aufgebracht und gesteuert werden, und desto schwieriger ist der Ansatz. Und der in kürzesten Pausen die Instrumente sicher ablegen und aufnehmen und sich auf sie einstellen kann.
Und man muss ein Orchester finden, das bereit ist, sich hineinzuquälen in eine außerordentlich schwierige Partitur. Eigentlich erstaunlich, dass das in nur gut drei Tagen gemeinsamer Proben so perfekt gelungen ist. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass „Nola“ zu Sebastian Tewinkels Lieblingsstücken zählt.
Es ist zum einen eine spannende Suche nach Klangeffekten im Zusammenspiel von Flöten und Streichern, nach Kontrasten, Annäherungen und Überlagerungen, wobei die tiefen Flöten mit Mikrofonen verstärkt werden, die auch die bläserischen Nebengeräusche erfahrbar machen. Zum anderen ist es eine Kombination aus traditioneller asiatischer Musik und moderner europäischer Musikästhetik, die sich im Laufe des Konzerts intensiviert und eine Entwicklung deutlich werden lässt.
Das Konzert besteht aus zwei kontrastiven Sätzen. Der erste bewegt sich noch zumindest zu Beginn im Rahmen westeuropäisch geschulter Hörerwartungen, ist langsam, zunehmend dramatisch und nachvollziehbar melodiös. Und er bietet auch ein bisschen Raum, um sich an die ungewohnten Instrumente und ihre Bedienung zu gewöhnen. Hier wurde das Thema Folklore“ durchaus verständlich.
Der zweite Satz hat’s dann in sich. Da werden die virtuosen Ansprüche auf beiden Seiten enorm in die Höhe getrieben mit extremen Tempi, mit wechselnden, sich überlagernden Rhythmen, die sich aber sehr gut ergänzten, mit hämmerndem Pulsieren.
Technik des Loop Delay
Dabei kam nun auch die Elektronik voll zum Tragen, denn Matthias Ziegler setzte die Technik des Loop Delay ein, das Einspielen von einzelnen Rhythmen, die sofort zu einem massiven Fundament zusammengefügt wurden. Da hatte das Orchester gegen einen enormen Druck zu bestehen, und es wehrte sich prächtig.
Als Zuhörer machte man bei diesem Konzert eine doppelte Wandlung durch. Im Vordergrund stand zunächst neben dem ein bisschen mystischen melodischen Gehalt die Sensation der beiden tiefen Flöten, die als Soloinstrumente oder in Orchestern so gut wie nie auftauchen. Und nicht nur ihr Tonumfang, sondern auch das Handling. Denn es hat schon etwas, wenn sich der Spieler sogar ein bisschen strecken muss, um an das Mundstück zu kommen.
Doch schnell richtete sich der Fokus auf die Klänge, die Matthias Ziegler ungemein flexibel und verfremdend gestaltete und die man weder von Flöten noch von einem Streichorchester erwartet hätte.
Raffiniert unübersichtlich
Spätestens im schnellen zweiten Satz gab man die Versuche einer Verortung auf und ließ sich von der raffiniert unübersichtlichen Musik mit ihrem unglaublichen Vortrieb und immer dominanter werdenden Rhythmus fesseln. Eine spannende Sache. Kein Wunder, dass beim Applaus der ganze Saal stand.
Bei dieser musikalischen und emotionalen Wucht wirkte die „musikalische Umrahmung“ geradezu gutbürgerlich, obwohl es zwei berühmte Namen und zwei berühmte Werke waren. Zum Auftakt spielten die Brückenauer den Quartettsatz c-Moll D 703 aus einem Streichquartett, das Franz Schubert 1820 begonnen, aber nie vollendet hat. Natürlich in einer Bearbeitung, denn es ist eine Kontrabassstimme hinzugefügt, die die Cellostimme phasenweise verstärkt.
Sebastian Tewinkel dirigierte den Satz mit einer plastischen Dynamik, die deutlich machte, dass Schubert hier an der Schwelle zur starken Emotionalität stand, zur Dramatik, wie schon der Beginn zeigte. Denn da steigerte sich das durch die Stimmen versetzt geheimnisvoll einsetzende Pianissimo-Tremolo innerhalb von acht Trakten zum kraftvollen Fortissimo. Und ausgezeichnet waren die Naturstimmungen herausgearbeitet – durchaus im Sinne der Folklore, die bei Schubert neu waren.
Und nach „Nola“ führte Antonín Dvořák wieder zurück in die vertrauten Hörgewohnheiten mit der fünfsätzigen Serenade E-Dur für Streichorchester op. 22. Da konnte man dann wirklich eintauchen in böhmische Klangwelten. Und in die begaben sich die Musiker mit spürbarer Sympathie, mit einem fließenden Legato, mit markanter, aber nicht überzeichnender Charakterisierung der Sätze, die nicht nur im zweiten Satz, dem „Tempo di valse“ auf tänzerische Aspekte zielte. Und die im letzten Satz die wesentlichen Themen der Serenade noch einmal plastisch in Erinnerung riefen.
Zur Zugabe kam Matthias Förster noch einmal mit auf die Bühne. Klar, denn bei Christoph Willibald Glucks „Reigen seliger Geister“ ist die (ganz normale) Sopran-Traversflöte die führende Stimme.