
Es ist eine tückische Krankheit, die oft lange unentdeckt bleibt. Gegenwärtig ist sie noch nicht gut erforscht, obwohl nach Expertenschätzungen 250.000 Menschen in Deutschland, darunter 40.000 Jugendliche und Kinder, an ihr erkrankt sind. Die Rede ist von myalgischer Enzephalomyelitis (ME), besser bekannt als Chronisches Fatigue-Syndrom oder auf deutsch Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS). "Ich versuche den Begriff Erschöpfungssyndrom zu vermeiden, weil es für Patienten wertend klingt, da sie bei ME/CFS auch durch Schlafen nicht mehr fit werden", sagt Arpad Grec, neuer Chefarzt für Psychosomatik der Hescuro Kliniken Bad Bocklet .
ME/CFS ist eine schwere neuroimmologische Erkrankung, die in unterschiedlichsten Ausprägungen auftritt. In schweren Fällen führt sie zu einem hohen Grad der Behinderung. Die Betroffenen sind berufsunfähig, viele sind nicht einmal in der Lage, das Haus zu verlassen. "Bei CFS-Patienten ist es wie bei einem Handyakku, der nachts nicht lädt und schon morgens rot ist", nennt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie als Vergleich. Die Betroffenen sind ständig völlig kaputt, leiden an Muskelschmerzen und -krämpfen, massiven Schlafstörungen, Konzentrations-, Wortfindungs- und Gedächtnisstörungen; viele entwickeln aufgrund ihrer völligen Hilflosigkeit Depressionen.
Was löst die chronische Erschöpfung aus?
"Wir wissen nicht, durch welche Mechanismen die Krankheit zu Tage tritt", erklärt Grec. Das mache es schwierig, sie zu therapieren. Ein Medikament gibt es nicht. "Der Klassiker als Auslöser ist eine Virusinfektion , nach der sich ME/CFS manifestiert", sagt Grec. Die Krankheit kann nach einer Infektion mit Herpesviren genauso auftreten, wie nach einer Grippe-, Magen-Darm- oder Coronaerkrankung. "Sie kann im Prinzip jeden treffen. Deshalb ist es wichtig, dass man darüber aufklärt", findet der Arzt.
Natürlich entwickelt längst nicht jeder Patient nach einer Virusinfektion ein Chronisches Erschöpfungssyndrom. Andersherum gibt es auch Patienten, die ohne Viruskontakt daran erkranken. Experten gehen davon aus, dass Autoimmunerkrankungen ME/CFS begünstigen. Wie beim Virenkontakt sind die genauen Zusammenhänge jedoch unklar.
Das Fatigue-Syndrom tritt auch häufig als Begleiterscheinung auf, meistens in Verbindung mit schweren Krankheiten, die den ganzen Organismus betreffen, wie Krebs, rheumatischen, Magen-Darm- und neurologischen Erkrankungen sowie Erkrankungen der Schilddrüse. "Das sind die Klassiker. Gerade bei Krebspatienten sehe ich sehr oft das Chronische Fatigue-Syndrom ", berichtet der Mediziner. Problematisch für Patienten und Mediziner ist, dass die Auswirkungen der Grunderkrankungen häufig mit den Symptomen von ME/CFS überlappen. Das mache es oft schwierig, die Krankheit korrekt zu diagnostizieren. Eine korrekte Diagnose brauche es aber, um den Patienten zu helfen. "Für sie ist das ein schlimmer, hoffnungsloser Zustand. Wenn man Krebs geheilt hat und an ME/CFS leidet, hat man trotzdem keine Lebensqualität", weiß der Mediziner aus Erfahrung mit seinen Patienten.
Reha gibt Betroffenen Hoffnung
Grundsätzlich ist es medizinisch aktuell nicht möglich, das Syndrom zu heilen. Das müsse der Körper selbst schaffen. Trotzdem stehen die Chancen selbst für Schwerstbetroffene gut, die Erkrankung zu überstehen. "Man kann den Zustand in der Reha deutlich verbessern. ME/CFS geht meistens vorbei. Alle Patienten, die ich gesehen habe, sind gesund geworden", betont er. Die Genesungszeit könne Monate dauern, mitunter sogar Jahre. Grec berichtet von Patienten, die sich über Monate unerkannt mit der Krankheit herumgeplagt haben. Ihnen helfe es für den Anfang, dass sie wissen, woran sie leiden und wie sie damit umzugehen haben. "Wir können sie in der Klinik auf den richtigen Weg führen und ihnen Hoffnung geben", sagt er.
Tagebuch führen gegen Überlastungs-Crash
Leidet ein Mensch am Chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) hält Arpad Grec, seit drei Monaten Chefarzt für Psychosomatik der Hescuro Kliniken eine Reha für hilfreich. Bleibt die Erkrankungen unentdeckt und unbehandelt, besteht das Risiko, dass sich der Grundzustand der Betroffenen verschlechtert, und dass sich ihr Leiden in die Länge zieht.
Mit ME/CFS-Patienten muss in der Behandlung anders umgegangen werden, als mit anderen Patienten in der Psychomatik. Während etwa Angstpatienten oder Menschen mit Depressionen insbesondere aktive Therapie-Angebote brauchen, kann ein Zu-Viel an Aktivität für ME/CFS-Patienten sogar schädlich sein. Die Dosierung ist entscheidend: "Bei ME/CFS haben die Patienten jeweils einen individuellen Belastungskorridor, in dem wir uns bewegen", erklärt Grec.
ME/CFS-Patienten steht in der Klinik das gleiche Therapie-Angebot zur Verfügung: Wandern zum Beispiel, Walking, Schwimmen, Ergo-, Physio und Kreativtherapien, Wärmebehandlungen.
Bei Überanstrengung droht der körperliche Crash
Wichtig: Die Betroffenen müssen aktiv sein, um wieder Kraft aufzubauen. Sie dürfen sich aber auf keinen Fall überanstrengen. Dann riskieren sie einen körperlichen Crash, eine sogenannte Post-Exertionelle Malaise. Gemeint ist, dass sich die Symptome drastisch verschlimmern. "Das ist ein Zustand der absoluten Tiefenerschöpfung, Die Patienten kommen dann gar nicht mehr aus dem Bett hoch. Häufig ist danach das körperliche Grundniveau noch einmal niedriger. Diesen Crash müssen wir in der Therapie unbedingt vermeiden", erklärt Grec.
Damit die Patienten ihren Belastungskorridor nicht verlassen, empfiehlt der Arzt, Tagebuch zu führen. Sie schreiben auf, wie viele Schritte sie laufen, wie lange sie schwimmen oder sich sonst betätigen. Auch geistige Arbeit wie Lesen wird notiert. Dazu vermerken die Patienten, wie gut es ihnen dabei und am nächsten Tag geht. "Das sehen nur die Patienten selbst", sagt der Arzt.
Die Patienten müssen lernen, sich zu gedulden, denn ihr Belastungskorridor und damit ihr körperlicher Zustand, lässt sich nur in kleinen Schritten trainieren. Mit der Zeit wird der Körper aber wieder leistungsfähiger, der Körper-Akku erreicht höhere Ladestände.
Unter den 250.000 ME/CFS-Patienten die größte Gruppe machen die 29- bis 35-Jährigen aus. "Diese Leute werden aus der Blüte des Lebens herausgerissen", meint der Arzt. Auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit fallen sie plötzlich über Monate aus dem Familie, dem Privat- und Berufsleben heraus. Dabei handle es sich nicht nur um menschliche Schicksalsschläge, sondern um einen beträchtlichen gesamtgesellschaftlichen Schaden. Für eine gesicherte Diagnose muss das Krankheitsbild immerhin seit sechs Monaten bestehen. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hofft, dass die Forschung Fortschritte macht und das chronische Erschöpfungssyndrom in Zukunft effektiver zu behandeln ist.
Zur Person
Dr. Arpad Grec ist 55 Jahre alt, wurde im ehemaligen Jugoslawien geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat er in München absolviert. Zuletzt hat er 15 Jahre als Ober- und Chefarzt in Schweden gearbeitet, unter anderem an der Karolinska-Uniklinik in Stockholm. 2022 kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück, an die Hescuro-Kliniken Bad Bocklet .