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Bad Kissingen
Chronik eines verpfuschten Lebens
Wie bestraft man einen alten Mann, der sein ganzes Leben kriminell war und mehr Zeit im Gefängnis als in Freiheit gelebt hat? Eine schwierige Aufgabe für das Amtsgericht Bad Kissingen.
Ein 77-jähriger Mann mit 29 Vorstrafen musste sich vor dem Bad Kissinger Amtsgericht verantworten.
Foto: Symbolbild: Arne Dedert/dpa | Ein 77-jähriger Mann mit 29 Vorstrafen musste sich vor dem Bad Kissinger Amtsgericht verantworten.
Rüdiger Schwenkert
 |  aktualisiert: 03.04.2025 10:18 Uhr

Der freundliche ältere Herr mit dem weißen Vollbart wirkt auf der Anklagebank des Gerichtssaals 030 etwas deplatziert. Aber diesen Platz kennt er nur zu gut. Er musste dort schon sehr oft sitzen, denn er ist ein notorischer Straftäter.

Die Richterin erscheint im Saal und erkennt sofort, was falsch ist. Der fragile Senior trägt Fußfesseln. Zwei Polizeibeamte haben ihn von der Justizvollzugsanstalt Würzburg in das Bad Kissinger Amtsgericht gebracht und streng nach Vorschrift gehandelt.

Fußfesseln abgenommen

Die Vorsitzende sieht das anders. „Nehmen Sie ihm die Fußfesseln ab“, weist sie die Polizisten an. Sie tun es sofort und ohne Widerspruch. Der Angeklagte darf den Platz mit seinem Verteidiger tauschen. So sitzt er näher am Richtertisch. Er hört nicht mehr gut und kann der Verhandlung nun besser folgen.

Die Personalien werden aufgenommen. Der Beschuldigte wurde im Februar 1948 geboren, ist also 77 Jahre alt. Seit 18. Februar dieses Jahres saß er in der Würzburger JVA in sogenannter Vorführungshaft.

Nicht zum Prozess erschienen

Er war trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vor Gericht erschienen. Deshalb wurde ein Vorführungshaftbefehl erlassen, um das Erscheinen des Angeklagten sicherzustellen.

Wie es ihm in der Haft ergangen ist, fragt die Richterin. Er antwortet ruhig und deutlich: „Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, eingesperrt zu sein. Man hat mich korrekt behandelt.“

Drei Taten im Mai 2023

Die Staatsanwältin verliest die Anklageschrift. Es geht um drei Vorfälle im Mai 2023. Gegen 1.45 Uhr soll der Mann mit einem Schraubenzieher versucht haben, die Tür einer Gaststätte in Bad Kissingen aufzubrechen. Weil dies nicht gelingt, holt er sich von einer nahen Baustelle eine Gerüststange und schlägt die Glastür ein.

Der Einbruch misslingt gründlich, denn als er das Lokal verlässt, wartet schon eine Polizeistreife auf ihn. Der Schaden an der eingeschlagenen Tür, so steht es in den Akten des Gerichts, beträgt 2650 Euro.

Einbruch in Bäckerei

Nur eine Woche später soll der Mann in eine Bäckerei in Oberfranken eingebrochen sein. Im Büro stiehlt er einen Kasseneinsatz mit Bargeld und einen Eisbecher, in dem Münzgeld ist. Während der Tat wird er von einer Überwachungskamera gefilmt und über die elektronische Gesichtserkennung identifiziert. Den Schaden beziffert die Anklagevertreterin auf etwa 500 Euro.

Im Hotel die Zeche geprellt

Einen Tag zuvor war der Mann, ebenfalls in Oberfranken, aus einem Hotel verschwunden, ohne die Übernachtungskosten von 70 Euro zu zahlen. Die Schlüssel für die Hoteltür und das Zimmer nahm er mit. Dadurch entstand ein zusätzlicher Schaden von etwa 300 Euro, weil die Schließanlage getauscht werden musste.

Eigentlich hätte er das Hotel schon einen Tag früher verlassen wollen, berichtet der Angeklagte. Für die erste Nacht habe er auch gezahlt. Wegen eines Bahnstreiks kam er nicht weg und hatte kein Geld mehr. So übernachtete er ein weiteres Mal und beging damit eine Straftat.

Schöne Erinnerungen an Bad Kissingen

„Das stimmt alles“, sagt der 77-Jährige, als die Staatsanwältin geendet hat. Er berichtet aus seiner Sicht über die Hintergründe des Einbruchs in der Welterbestadt. Er habe wunderschöne Erinnerungen an Bad Kissingen und sei deshalb von Würzburg per Bahn angereist.

In der örtlichen Spielbank habe er sein gesamtes Geld verloren und „aus der Situation heraus, nicht geplant“, den Entschluss zu dem Einbruch gefasst. Wie viel er verloren hat, will die Richterin wissen. „Einige Tausend Euro“, antwortet der Mann.

Container als Wohnung

Das klingt nicht sehr wahrscheinlich. Der 77-Jährige bezieht Bürgergeld und wohnt in der Nähe von Würzburg in einem Container, den die Gemeinde ihm zur Verfügung gestellt hat. „Wie viel Platz haben Sie im Container, etwa so viel wie in Ihrer Haftzelle?“, wird er von der Richterin gefragt. „Nicht viel mehr, aber etwas“, antwortet er.

29 Vorstrafen seit 1965

Während der Verhandlung werden immer mehr Details aus seinem Leben bekannt. Er war schon sehr früh auf die schiefe Bahn geraten. 29 Einträge umfasst das Strafregister, das die Vorsitzende vorliest. 1965 wird er wegen schweren Diebstahls zu einer Jugendstrafe verurteilt. 1966 ein weiterer Eintrag, 1969 folgt in Köln eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. 1970 eine weitere Tat, für die er in Hamburg für drei Jahre ins Gefängnis muss.

Sechs Jahre Haft in Frankreich

Es folgen Aufenthalte in den Justizvollzugsanstalten Schweinfurt, Würzburg, Hameln und Düren. 1979 sitzt er eine neunmonatige Strafe in Großbritannien ab. Für sechs Jahre schickt ihn die französische Justiz ab 1981 hinter Gitter.

Der heute 77-Jährige kehrt anschließend zurück nach Deutschland und ist Dauergast auf den Anklagebänken der Republik. Immer wieder geht es um Diebstahl, Einbruch oder Betrug. Menschen kamen körperlich nicht zu Schaden, denn gewalttätig ist er nicht.

Seit 2018 ist der Mann frei

Die Verlesung des Strafregisters endet im Jahr 2016 - vorläufig. Damals wurde der Mann, bereits im Rentenalter, zu einer Haftstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und kam 2018 frei.

Eine Rente bekommt der Angeklagte nicht, weil er die längste Zeit seines Lebens hinter Gittern war und selten gearbeitet hat. Von seinem Bürgergeld werden monatlich 50 Euro abgezogen, weil die Behörden vor langer Zeit die Sozialhilfe weiter gezahlt hatten, als er in Haft saß.

Sterbende Partnerin gepflegt

Von seiner ersten Frau wurde er geschieden. Auf die Frage nach seinem Familienstand antwortet er, dass er Witwer ist. Das stimmt nicht ganz. Er war zehn Jahre mit einer Frau zusammen, die schwer krank wurde und starb. Sie waren nicht offiziell verheiratet, „aber so gut wie“, sagt er.

Der Verteidiger erklärt, dass sich der Angeklagte in ihren letzten Monaten rührend um die Schwerkranke gekümmert habe. Nach ihrem Tod sei er in eine schwere Depression verfallen. „Es war mir alles egal“, fügt der 77-Jährige hinzu.

Wohngruppe wollte ihn nicht

Der alleinstehende Senior sollte anschließend in einer Gruppe für betreutes Wohnen untergebracht werden. Doch dort wollten sie ihn nicht. „Sie sagten mir, dass ich nicht der richtige Mensch für diese Gemeinschaft bin“, berichtet er.

Ganz allein ist er trotzdem nicht. Es gibt Menschen in der Gemeinde, die sich um den Mann im Container kümmern. Der evangelische Pfarrer und seine Frau zum Beispiel.

Auch einige Bewohner aus der Nachbarschaft sehen nach ihm, haben ihn sogar in der Haft besucht. Sie alle haben es nicht leicht mit dem Mann. Ab und zu verschwindet er für Tage oder Wochen, dann kommt er plötzlich wieder zurück.

Ein Rechtsanwalt zeigt Herz

Die Richterin hat genug gehört und schlägt vor, die Verhandlung abzukürzen. Weil der Senior alle Anklagepunkte gestanden hat, ist die Aussage der drei Zeugen nicht mehr nötig. Sie schlägt vor, den Fall mit einer Bewährungsstrafe zu beenden.

Die Staatsanwaltschaft berät sich kurz und stimmt zu. Zehn Monate auf Bewährung fordert die Anklagevertreterin, dazu verpflichtend der regelmäßige Kontakt zu einer Betreuerin.

Damit kann auch der Verteidiger leben und überrascht mit einem sehr emotionalen Zusatz: „Während meiner langen juristischen Laufbahn habe ich selten einen Fall erlebt, der mir so zu Herzen ging.“

„Ich bin kein gewissenloser Mensch“

Der Angeklagte hat das letzte Wort und macht eine ungewöhnliche Ansage: „Ich werde Sie nicht damit belasten, indem ich sage, es tut mir leid. Bei meinen vielen Vorstrafen habe ich das schon oft gesagt.“

Dann spricht er es aber doch aus: „Es tut mir leid, denn ich bin kein gewissenloser Mensch.“ Und weiter: „Es tut mir auch leid, dass ich zur ersten Verhandlung nicht erschienen bin. Das sollte nicht respektlos sein.“

Das Gericht verurteilt den 77-Jährigen zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten, die für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wird. Außerdem muss er regelmäßigen Kontakt zu seiner Betreuerin halten.

„Jemals an die Geschädigten gedacht?“

Die Richterin stellt dem Mann zum Abschluss noch eine Frage: „Haben Sie sich in Ihrem bisherigen Leben jemals die Frage gestellt, wie es den Geschädigten geht, wenn ihre Tür eingeschlagen und ihre Sachen durchwühlt wurden?“ Darauf hat er keine Antwort.

Und noch einen dringenden Hinweis bekommt er mit auf den Weg: „Sollte während der Bewährungszeit etwas vorkommen, gehen Sie wieder ins Gefängnis.“ Vermutlich wäre er dann einer der ältesten Insassen in deutschen Haftanstalten , fügt die Vorsitzende hinzu. Damit hat sie vermutlich recht.

Das Urteil ist rechtskräftig, weil beide Prozessparteien auf Einspruch oder Revision verzichtet haben.

 
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