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Bad Kissingen/Almaty
Chaos in Kasachstan: Wie ein Bad Kissinger die gewaltsamen Unruhen vor Ort erlebte
Der Bad Kissinger Philipp Dippl lebt in Kasachstan. Bei den Straßenschlachten erlebte er in Almaty Tage zwischen Alarmsirenen, Ausgangssperre und Schießbefehl. Chronik eines Gewaltexzesses.
In der autoritär regierten Republik Kasachstan hatte es Anfang des Monats zunächst Proteste gegen eine Verdopplung der Preise für Gas gegeben. Die Demonstrationen schlugen nach wenigen Tagen in rohe Gewalt um.
Foto: Vasily Krestyaninov, AP, dpa | In der autoritär regierten Republik Kasachstan hatte es Anfang des Monats zunächst Proteste gegen eine Verdopplung der Preise für Gas gegeben. Die Demonstrationen schlugen nach wenigen Tagen in rohe Gewalt um.
Bearbeitet von Johannes Schlereth
 |  aktualisiert: 12.02.2024 23:15 Uhr

Philipp Dippl muss die Erlebnisse der vergangenen Tage noch ordnen. "Vieles, was wir gesehen und erlebt haben – das müssen wir erst verarbeiten", sagt er im Video-Telefonat mit dieser Redaktion. Der 33-Jährige, der gebürtig aus Bad Kissingen stammt, lebt seit fast vier Jahren bei seiner Frau in der ehemaligen kasachischen Hauptstadt Almaty, arbeitet dort als Reporter, Übersetzer und betreibt eine Bar. Gegenüber dieser Redaktion schilderte Dippl nach den Unruhen seine Eindrücke von den Erlebnissen.

In dem über viele Jahre international wegen seiner Stabilität gelobten Land an der Grenze zu China gab es Anfang des Monats zunächst Proteste gegen eine Verdopplung der Preise für Gas, das als Kraftstoff für Autos genutzt wird. Die Demonstrationen schlugen nach wenigen Tagen in rohe Gewalt um. Staatschef Kassym-Schomart Tokajew sprach von einem Angriff "terroristischer Banden". Er erteilte einen Schießbefehl. Mehr als 20 000 Menschen sollen an den Protesten beteiligt gewesen sein, es gab mehr als 10 000 Festnahmen. Den Behörden zufolge sind insgesamt 225 Menschen bei den Ausschreitungen in der Millionenstadt Almaty und in anderen Landesteilen getötet worden: 206 Bürgerinnen und Bürger und 19 Sicherheitskräfte. 

'Was niemand erwartet hatte, war, dass die Bevölkerung in ganz Kasachstan sich mit den Arbeitern solidarisierte und auf die Straße ging.' Der Bad Kissinger Philipp Dippl lebt mit seiner Frau in der Millionenstadt Almaty.
Foto: privat | "Was niemand erwartet hatte, war, dass die Bevölkerung in ganz Kasachstan sich mit den Arbeitern solidarisierte und auf die Straße ging." Der Bad Kissinger Philipp Dippl lebt mit seiner Frau in der ...

"Eigentlich war Gas für die Bevölkerung subventioniert. Dann kam von der Regierung der Entschluss, den Gaspreis am Weltmarktpreis auszurichten", umreißt Dippl die Ausgangslage. Die Folge: "Der Gaspreis hat sich über Nacht verdoppelt." Das sei gerade bei den Arbeitern in den Gaswerken nicht gut angekommen. "Sie tragen übermäßig zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes bei, leben aber übermäßig schlecht."

Bereits vor zehn Jahren Unruhen mit Todesopfern

Schon vor zehn Jahren gab es deshalb im Westen Kasachstans heftige Unruhen mit Todesopfern. Auch jetzt ging der Funke wieder von der Öl- und Gasregion aus. "Was niemand erwartet hatte, war, dass die Bevölkerung in ganz Kasachstan sich mit den Arbeitern solidarisiert und auf die Straße geht", sagt Dippl. Hinzugekommen sei noch der angestaute Frust über die Seilschaften einer korrupten Regierung: Der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew hat nach wie vor großen Einfluss auf die Politik des Landes. Der Wohlstand, der zum Teil auf den Gasfeldern fußt, fließt auch in die Taschen seines Clans.

Chaos in Kasachstan: Wie ein Bad Kissinger die gewaltsamen Unruhen vor Ort erlebte

Bei den Demonstrationen skandierte die Menge daher: "Geh, alter Mann!" So auch in Philipp Dippls Wohnort Almaty. Am 4. Januar habe er über die Sozialen Medien erfahren, dass sich außerhalb des Stadtzentrums Menschen auf den Straßen versammelten. Er und seine Frau seien noch Einkaufen gegangen, um sich die wichtigsten Vorräte anzulegen. Dann hätten sie Freunde und Familie über ihren Plan informiert, sich in der Wohnung zu verbarrikadieren. "Entlang der Route des Protestzugs waren einzelne brennende Autos." Das Ziel der Menschenmenge: der Platz der Republik, das Zentrum Almatys. Dort befinden sich die wichtigsten politischen Verwaltungsgebäude der Stadt.

Platz der Republik mit einer bewegten Vergangenheit

Der Platz war Dreh- und Angelpunkt der Ausschreitungen, was mit seiner Geschichte zusammenhängt. "Der Platz ist Symbol der Unabhängigkeit Kasachstans. Schon 1986 demonstrierten dort Studenten für die Unabhängigkeit", sagt Dippl. Die Sowjetmacht knüppelte damals allerdings die Demonstrierenden nieder. Bis heute gebe es kaum Informationen zu den Opferzahlen. Im Fokus der Gedächtniskultur des Staates stehen laut Philipp Dippl, der russische Kultur in Bochum und Moskau studiert hat, nicht die Toten, sondern die Unabhängigkeit. "Dass dort Leute gestorben sind, wird in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Und das, obwohl alle wissen, was passiert ist." Für Dippl ist klar: Wenn etwas wichtiges Politisches passiert, dann am Platz der Republik.

Spuren des Protests: Menschen starben auf den Straßen der kasachischen Metropole Almaty - und auch das Rathaus ging Anfang Januar in Flammen auf.
Foto: Sergei Grits, AP, dpa | Spuren des Protests: Menschen starben auf den Straßen der kasachischen Metropole Almaty - und auch das Rathaus ging Anfang Januar in Flammen auf.

Dippl wohnt mit seiner Frau etwa 20 Geh-Minuten vom Platz der Republik entfernt. "Beim Blick aus dem Fenster war immer ein Blitzen und Flackern zu sehen." Die Polizei habe Blend- und Reizgasgranaten eingesetzt. Im Lauf der Nacht hätten die Explosionen zugenommen. "Es ist unfassbar laut gewesen." Erst um fünf Uhr am Morgen hätten er und seine Frau Schlaf gefunden. "Am nächsten Morgen hat das Internet noch funktioniert. In den Nachrichten war zu lesen, dass es keine Toten, dafür aber Verletzte gegeben hat." Die Polizei schieße hier aus Erfahrung scharf. "Aber: Das ist nicht passiert. Wir dachten: Vielleicht ändert sich wirklich etwas?"

Dippl: "Das Bürgermeisteramt brannte und war gestürmt"

Am nächsten Tag unternahmen Philipp Dippl und seine Frau einen Spaziergang in Richtung Zentrum, um die Lage aus sicherer Entfernung zu sondieren. Vom Militär und der Polizei habe jede Spur gefehlt. "Das Bürgermeisteramt brannte und war gestürmt." Die Menschen auf dem Platz seien mit erbeuteter Polizeiausrüstung bewaffnet gewesen. "Es ging das Gerücht um, dass die Residenz des Präsidenten – ein Symbol der Staatsmacht am Platz – gestürmt werden sollte." Nach einer Weile hätten sich die Massen tatsächlich in diese Richtung verlagert. "Dann haben wir Maschinengewehre feuern gehört. Daraufhin sind wir nach Hause gegangen."

Aus Protest gegen hohe Energiepreise sind in Kasachstan in Zentralasien Anfang Januar Tausende Menschen auf die Straße gegangen. 
Foto: Vladimir Tretyakov/Ap, dpa | Aus Protest gegen hohe Energiepreise sind in Kasachstan in Zentralasien Anfang Januar Tausende Menschen auf die Straße gegangen. 

Das Militär habe scharf geschossen. "Als die Menschen die Residenz eingenommen haben, muss es extreme Gewaltausschreitungen gegeben haben", sagt Dippl. Es seien Gerüchte von totgeprügelten Menschen und abgeschnittenen Köpfen umgegangen. Die Lage eskalierte. "Am 5. und 6. Januar war keine Polizei, kein Militär und keine Feuerwehr zu sehen. Es herrschte Anarchie. Der Staat war nicht mehr existent. Geschäfte wurden geplündert, das Internet war abgeschnitten und Informationen kaum zu bekommen."

Regierungstruppen machten Jagd auf Menschen

Ihre wenigen Informationen erhielten Philipp Dippl und seine Frau über ein kleines Radio, das nach einigen Tagen Sendepause offizielle Nachrichten kundtat - und über den Festnetzanschluss zur Familie seiner Frau. "Nach wie vor ist so vieles unklar. Als das Internet vergangene Woche wieder da war, sind alle Kanäle heißgelaufen. Wir müssen das erstmal bündeln und sortieren", sagt Dippl. Die ersten Nachrichten hätten sich bei vielen seiner Kontakte geglichen: "Uns geht es gut. Uns ist nichts passiert. Wir sind daheim."

In der Nacht zum 7. Januar eroberten Fallschirmjäger dann den Flughafen Almatys zurück. "Dann kam der Entschluss des Präsidenten, Friedenstruppen reinzuholen. Vom Flughafen ausgehend wurde Almaty dann mehr oder weniger zurückerobert", berichtet Dippl. Parallel dazu liefen sogenannte Antiterror-Einsätze. Dabei hätten Regierungstruppen Jagd auf Menschen gemacht, die sich an den Ausschreitungen beteiligt hatten. "Es herrschte eine Ausgangssperre zwischen 23 und 7 Uhr. Und: Es gab einen Schießbefehl."

Kassym-Schomart Tokajew, Präsident von Kasachstan, spricht während seiner im Fernsehen übertragenen Erklärung an die Nation.
Foto: Kazakhstan's Presidential Press Service/AP, dpa | Kassym-Schomart Tokajew, Präsident von Kasachstan, spricht während seiner im Fernsehen übertragenen Erklärung an die Nation.

Dann war für Dippl und seine Frau klar: "Wir gehen nicht mehr raus. Es sind viele Menschen gestorben. Soweit ich weiß, laufen immer noch Antiterroreinsätze, in den Randgebieten gibt es immer noch Schießereien, um sogenannte Terroristen aufzuspüren", berichtet der 33-Jährige. Das Erschütterndste sei für ihn die Gewalt gewesen, die sich entladen hat. Es gebe grauenvolle Aufnahmen mit Leichensäcken. "Wie viel von den offiziellen Zahlen zu halten ist, weiß ich nicht." Es habe jedoch extreme Gewalt auf beiden Seiten gegeben.

Philipp Dippl bemüht sich um Normalität

Tagsüber habe sich die Lage mittlerweile wieder beruhigt. Aber: "Nachts ist es gespenstisch still. So still wie noch nie. Wenn man aus dem Fenster schaut – es ist gruselig und furchteinflößend", sagt Dippl. Er uns seine Frau wollen in ihrer Bar dennoch Stück für Stück in die Normalität zurückfinden. "Es geht darum, ein Sicherheitsgefühl aufzubauen, dass man beispielsweise ohne Bedenken abends essen gehen kann." Seine Familie in Bad Kissingen müsse sich jedoch keine Sorgen machen. "Wir waren nicht unmittelbar betroffen von den Unruhen und meine Mutter weiß, dass ich sehr auf die Sicherheit achte."

 
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Kommentare
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  • deweka
    Dies ist ein schönes Beispiel dafür was wir mit dem Import fossiler Energieträger finanzieren.
    Auch wenn wir aus Kasachstan direkt nicht so viel beziehen unterstützen wir jedoch Putin in seinem Bestreben nicht nur die eigene Bevölkerung sondern auch Die anderer Länder mit ihm hörigen Diktatoren zu unterdrücken.
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