
Über den Holocaust und das Schicksal deutscher und in Europa vom Nazi-Regime verfolgter und ermordeter Juden gibt es eine Vielzahl fiktionaler und autobiografischer Bücher. Doch der im Oktober im Suhrkamp Verlag veröffentlichte Roman "Stramer" von Mikołaj Łoziński (44) unterscheidet sich davon grundsätzlich und macht ihn auch deshalb zur besonderen Lektüre: In Gedenken an seinen aus Tarnów stammenden Großvater namens Stramer, den er nie kennenlernte, erzählt der polnische Schriftsteller in seinem fiktionalen Familienroman die Lebensgeschichte zweier Generationen einer einfachen polnisch-jüdischen Familie in der galizischen Kleinstadt Tarnów nahe Krakau in den Jahrzehnten des wachsenden Antisemitismus nach Ende des Ersten Weltkriegs bis zum überraschenden Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Jahr 1941.
Es ist die alltägliche Geschichte "einer ganz normalen Familie in jener Zeit" (Łoziński), geprägt von familiären Konflikten zwischen Kindern und Eltern oder den Geschwistern untereinander, wie sie in jeder Familie zu erleben sind, von einem Leben voller Hoffnungen und Träume, aber dann auch von einer engen familiären Verbundenheit in einer für Juden zunehmend bedrohlichen Zeit.
Hoffnung trotz schwieriger Lebenssituation
Nach seiner Rückkehr aus New York, wo er begleitet vom älteren Bruder für einige Jahre sein Glück gesucht hatte, lebt der erfolglose Auswanderer Nathan Stramer mit Ehefrau Rywka und seinen sechs Kindern in der jüdischen Vorstadt Grabówka am Rande Tarnóws in einer viel zu engen Wohnung mit Schlafzimmer, Küche und Abort auf dem Hof. Obwohl keine seiner geschäftlichen Aktivitäten zum Erfolg führt, bleibt Nathans positive Lebenseinstellung ungebrochen. "Gut, aber nicht hoffnungslos", antwortet er auf die Frage nach seinem Befinden.
Bereits im Kindesalter herrschte Diskriminierung
Während Nathan weiterträumt, als Patriarch und Erzieher versagt und er seine Familie über die Jahre nur dank Gelegenheitsarbeiten und der vom Bruder aus den USA geschickten Dollars mehr schlecht als recht über Wasser halten kann, wachsen seine vier Söhne und zwei Töchter zur Selbstständigkeit heran. Mit Nachhilfestunden verdienen sie sich ihr Schulgeld fürs Gymnasium. Mit ihnen erleben wir das Alltagsleben in Tarnów, wo die katholischen Kinder mit den jüdischen zwar gemeinsam in die Schule gehen, in der Freizeit aber wie selbstverständlich getrennt in parallelen Welten leben. So gibt es eine katholische Pfadfindergruppe und einen vergleichbaren jüdischen Verbund, wobei Prügeleien zwischen beiden Gruppen nicht selten sind.
Schon früh war Antisemitismus deutlich zu spüren
Dieses gemeinschaftliche, dennoch parallele Kleinstadtleben ändert sich nicht erst nach der deutschen Besetzung. Schon in den Jahren zuvor prügeln sich auf der Straße orthodoxe, zionistische Juden mit polnisch assimilierten, zu denen auch Nathans Familie gehört, und Nationalisten kämpfen gegen Kommunisten, denen sich auch zwei Söhne Nathans "auf der Suche nach dem eigenen Platz in schwierigen und interessanten Zeiten" (Łoziński) als Funktionäre der Partei frühzeitig angeschlossen haben. Am Eingang des von ihnen oft besuchten Cafés ist bald zu lesen: "Hunden und Juden Zutritt verboten!" In der Universität Krakau fordern nationalistische Studenten "ein Ghetto in den Hörsälen. Tod dem Juden-Kommunismus!"
Humor geht trotz ernster Thematik nicht verloren
Łozińskis bewegendes Buch lebt von seiner Erzählkunst, komplexe emotionale und moralische Dilemmata sehr eindringlich und überzeugend darzustellen, wogegen die Repression durch das Nazi-Regime eher in Andeutungen spürbar wird. Die Tragik dieser berührenden Familiensaga wirkt umso stärker durch die im Widerspruch dazu stehende lockere Sprache, eine gewisse Beiläufigkeit des Alltäglichen, vermengt mit jüdischem Humor. Gesteigert wird die Dramatik zusätzlich dadurch, dass es eben nicht die Geschichte jüdischer Holocaust-Opfer ist. Vielmehr beschränkt sich Łoziński, wie er selbst in einem Interview sagte, in seiner Romanhandlung ganz bewusst nur auf die Jahre bis 1941. Das weitere Schicksal seiner Protagonisten lässt er dagegen völlig offen – und uns Leser mit unseren Vermutungen und Ahnungen allein.
Informationen zum Buch: Mikołaj Łoziński: "Stramer. Ein Familienroman", Suhrkamp Verlag , gebunden, 410 Seiten, Preis: 26 Euro, ISBN 978-3518431993