Warum verfängt rechte Rhetorik? Warum sitzen so viele ältere, eigentlich gut situierte Herren bei der AfD? Sie als Globalisierungsverlierer zu beschreiben, greift für Friedhelm Vahsen nicht. In seinen Erinnerungen an die eigene Schulzeit stieß er auf eine andere Erklärung.
Vahsen, Abiturjahrgang 1964, besuchte das Hammelburger Gymnasium. Der heutige Schulstandort befand sich damals gerade in Bau, der Unterricht war noch auf verschiedene Gebäude verteilt: das Rote Schloss, das Rathaus, das Gebäude hinterm Rathaus. "Wir wanderten zwischen den Gebäuden hin und her", sagt Vahsen.
In seinem frisch veröffentlichten Buch "Zwischenzeiten - Zeitenwende" beschreibt der 73-Jährige den "Zeitgeist in der fränkischen Provinz" und das Aufwachsen im schulisch-familiären Milieu. Der Schwerpunkt liegt auf den 1960er Jahren.
"Im Frühjahr qualmten alte Autoreifen in den Weinbergen, um die Nachtfröste fernzuhalten" und "Franz Josef Strauß begeisterte sein Publikum in der städtischen Turnhalle", führt das Buch in diese Zeit ein. In der Ferne scheinen Veränderungen am Horizont auf, neue Musik und neue Bands wie die Beatles und die Stones künden von einem kulturellen Wandel. "Doch dies berührte das Schulleben in Hammelburg zunächst nur peripher."
Auf der Basis eigener Erlebnisse sowie der Erinnerungen ehemaliger Mitschüler und Lehrer entfaltet Vahsen am Beispiel des Hammelburger Gymnasiums den damaligen Schulalltag. Beschwörungen gegen den aufziehenden Wandel prägten diesen. Die Themen der Schulaufgaben, die Vahsen aus den Jahresberichten zitiert, illustrieren es: "Gleichberechtigung der Frau - eine notwendige, aber gefährliche Reform unseres gesellschaftlichen Lebens", "der Totospieler, der Motorradfanatiker, der Jazzfan! Welche Züge unserer Zeit spiegeln sich in ihnen wieder?".
Kein Thema war dagegen die NS-Zeit. Der Geschichtsunterricht endete spätestens 1933. Dabei hätte es Anknüpfungspunkte gegeben: So war ein Teil der Lehrer in der Wehrmacht gewesen und ab 1963 begannen die Auschwitzprozesse. Das alles wurde aber ausgeblendet, wie der Autor feststellt. Dafür hießen Projekttage damals gänzlich ungerührt von der Frivolität "Konzentrationstage".
Überhaupt die Sprache: "Ich bin über den Sprachstil erschrocken. Das war mir damals so nicht bewusst", berichtet Vahsen von seiner Recherche in den Jahresberichten. Begriffe wie "ehrfürchtig" und "zuchtvoll" bestimmten das Denken.
All das, diese Bewusstseinsstrukturen, die Auslassungen, die mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sieht Vahsen bis heute in seiner Generation mitschwingen, quasi als Erbe der vorangegangenen Eltern- und Lehrergeneration. Das ist die allgemeine Kernthese seines Buches, die weit über die Erlebnisse in Hammelburg hinausreicht. Die eigene Schulzeit dient nur als Ausgangspunkt - eine sehr subjektive Illustration, wie Vahsen offen einräumt.
Er wurde in Thüringen geboren. Die Familie zog dann in den fränkischen Raum, wo Vahsen seine Kinder- und Jugendzeit verbrachte. Von Gemünden aus fuhr er mit dem Zug nach Hammelburg zur Schule. Das erzählt er in seinem Buch - und wie er beim Halt in Wolfsmünster im Zug auf dem Nachbargleis jedes Mal ein bestimmtes Mädchen zu erblicken versuchte. Solche Begebenheiten, Erinnerungen an einzelne Lehrer und Mitschüler , eine unangenehme Mathestunde und Frechheiten gegenüber dem Chemielehrer öffnen einen sehr privaten Blick auf ein Schülerleben.
Vahsen, der in Hildesheim lebt, fühlt sich noch immer der Gegend an der Saale verbunden. Einmal im Jahr fahre er nach Bad Kissingen, auch um Wein zu kaufen, erklärt er im Gespräch.
Nach Abitur und Wehrdienst studierte Vahsen in Erlangen-Nürnberg, später in München. Als 68er würde er sich nicht bezeichnen, sagt er. Gleichwohl habe er in dem damaligen Zeitgeist gelebt. Die Zeit der 68er fasst Vahsen aber als Impuls für sich auf.
Vahsen arbeitete als Sozialwissenschaftler und hatte zuletzt, bis zur Emeritierung im Jahr 2010, eine Stelle als Professor an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim inne. Die Beschäftigung mit Bildungspolitik begleitete ihn. Daraus entstand auch die Motivation für das Buch.
Es ist keine sozialwissenschaftliche Abhandlung, obwohl Vahsen einige bekannte Vertreter des Fachs mit ihren Leitgedanken aufführt. Seine durchweg persönlichen, in Ich-Form gehaltenen Schilderungen dominieren das Buch. Denn es war ursprünglich ganz autobiografisch angelegt, wie Vahsen sagt. Erst im Laufe der Recherchearbeit sei er auf seine These gestoßen.
Neuerscheinung Das Buch "Zwischenzeiten - Zeitenwende" von Friedhelm G. Vahsen ist erst seit wenigen Tagen erhältlich. Es ist als Band 99 in der Soziologie-Reihe des LIT Verlags erschienen. Das Buch hat 160 Seiten.