Auch wenn man es schon längst weiß und es wirklich nichts Neues ist: Es ist immer wieder erstaunlich zu beobachten, wie sehr sich junge Musiker innerhalb eines Dreivierteljahres weiterentwickeln können. Für derartige Beobachtungen ist der Kissinger KlavierOlymp mit seiner Wiedereinladungsgarantie ein ideales Podium. Denn die Pause zwischen Wettbewerb und Wiedersehen ist so lang, dass sich die jungen Leute verändern können - und so kurz, dass man sich als Publikum noch daran erinnert, wie sie ein Dreivierteljahr zuvor gespielt haben.
Der 2018-er Jahrgang scheint ein ausgezeichneter gewesen zu sein. Schon der Engländer James Martin Bartlett hatte am Sonntagabend mit dem Kammerorchester des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks gezeigt, wie viele Gedanken er sich zu den beiden Bach-Konzerten gemacht hatte und wie er sie auch umzusetzen verstand.
Auch Samira Spiegel und Aris Alexander Blettenberg haben in dem Dreivierteljahr enorm an musikalischer Profilierung gewonnen. Das zeigte sich unter anderem auch an dem höchst intelligenten Programm, das die beiden für ihren gemeinsamen Recitalabend zusammengestellt hatten. Samira Spiegel eröffnete mit den sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms , einem Werk, das früher nur alte Männer mit 120 Jahren Lebenserfahrung spielen durften. Die hat sie freilich nicht. Was dafür auffiel, war zum einen die außerordentlich sorgfältige Artikulation, die Gewichtung der einzelnen Töne im Zusammenspiel. Das war eine höchst tragfähige Basis für eine spannende und differenzierte emotionale Gestaltung, die zwar nüchterne, entromantisierte Angebote an den Zuhörer machte, die aber auch nicht so distanziert war, dass sie spröde wurde - sieben schöne Einladungen, sich auf Brahms einzulassen.
Béla Bartóks fünf Klavierstücke Sz. 81, vereint unter dem Titel "Im Freien", sind ein Filetstück für Pianistinnen und Pianisten , die sich gerne quälen. Denn sie sind "schwierigst", aber andererseits ist das eine wunderschöne, höchst dankbare Musik. Samira Spiegel hatte diese Suite schon einmal bei einem Klavierabend nach dem KlavierOlymp gespielt. Und sie hat noch einmal zugelegt an artikulatorischer Entschiedenheit und Zielstrebigkeit, hat die Musik noch mehr verdichtet. Klanglicher Höhepunkt ist zweifellos der Satz "Klänge der Nacht", gegen den die Chopinschen Nocturnes wie ein Wandertag in der Grundschule wirken. Was Samira Spiegel da mit einem tollen Anschlag aus den Tasten holte, waren übersteigerte Klangwahrnehmungen in der Dunkelheit, war das Erschrecken über schwer zu verortende Geräusche, war die Angst in der Finsternis. Da tat es gut, dass die "Hetzjagd" folgte, auch wenn man da bei diesem fulminanten Sturm sogar als Zuhörer außer Atem geriet. Als Zugabe spielte Samira Spiegel das erste der Tre Sonetti del Petrarca von Franz Liszt .
Auch Aris Alexander Blettenberg - er dirigiert zurzeit übrigens in Meiningen - hat deutlich zugelegt. Auch wenn da bei Joseph Haydns C-dur-Sonate Hob: XVI.48 noch nicht ganz so deutlich wurde. Natürlich hatte er das "Pech", dass Richard Goode am Abend zuvor auch Haydn gespielt hatte. So bekam man halt doch den Eindruck, dass er mit dieser Sonate noch ein bisschen fremdelte. Aber er zog sich ebenso raffiniert wie elegant aus der Affäre, indem er messerscharf artikulierte und so die Musik durch sich selbst wirken ließ.
Bei den Sechs Etüden über griechische Rhythmen der Volksmusik von Giannis Konstantinidis war er drin. Gemütlich waren die Sätze nicht. Alexis Sorbas hätte darauf nicht getanzt. Das war eine mitreißende, vollgriffige Musik voller rhythmischer Raffinessen und Farben, auf die man sich trotzdem gut einlassen konnte. Und dann George Gershwins "Rhapsody in Blue". Klar, gegen die lachende Klarinette zu Beginn kommt kein anderes Instrument an. Aber dann... Dann wurde A. A. Blettenberg zum Pianisten und Komponisten gleichermaßen, zerlegte die Musik in ihre Einzelteile, in ihre Strukturen, in ihre Zitate und fügte sie wieder zu einem mitreißenden Ganzen zusammen. Derart schwungvoll, farbig, geistreich hört man diese Rhapsody selten. Und genaus sollten erlebt man dabei einen Interpreten, der derart souverän mittendrin über der Sache steht.
Als Zugabe spielte A. A. B. einen kleinen Satz, den er als 17-Jähriger wohl in einem Anfall guter Laune komponiert hat.
Es war wirklich eine nette Geste, dass Cyprien Katsaris, der in diesem Jahr die junge Truppe bei einem Meisterkurs coachte, sich nicht zurückzog, sondern mit jedem von ihnen eine vierhändige Zugabe spielte. Bei dem Ungarischen Tanz Nr. 5 in der Urfassung von Johannes Brahms spielte Samira Spiegel ihn mit so viel Pfiff und Schwung an die Wand, dass man sich schon fragte, wo da die Gegenwehr blieb. Das Problem hatte Katsaris mit Aris Alexander Blettenberg nicht. Denn vierhändig kann man mit Gabriel Faurés "Berceuse" ein Kind nur in den Schlaf wiegen, wenn man nicht zu laut wird.
Bei der ultimativen, letzten Zugabe war dann das gesamte Personal im Einsatz. Da saßen dann alle drei (auf zwei nicht höhengleichen Hockern) vor dem Flügel und spielten einen Walzer zu sechs Händen, den Sergej Rachmaninow als Student für die drei Töchter seiner Zimmerwirtin komponiert hat. Das war optisch sicher spektakulär, aber musikalisch nicht allzu ergiebig. Denn im Vordergrund standen nicht Fragen der Interpretation, sondern der Organisation der Arme. Für die Statistiker: Bei 88 Tasten, die ein moderner Flügel hat, hat jeder der 30 Finger genau 2,933 Tasten zu betreuen. "Das kann ich auch spielen!", wird mancher spontan denken. Aber Vorsicht: Auf jedem Flügel gibt es eine ganze Menge Tasten, die von mehreren Fingern gedrückt werden können.