"Geschichte wird erst durch Geschichten lebendig", weiß Rainer Kirch. Er kennt die Geschichte vom Goldrausch in Münnerstadt ebenso wie die von der geflüchteten und nie mehr gefundenen Kuh oder von dem Dienstmädchen, das sich jeden Tag mit Seife waschen muss. Bekannt ist er nicht nur als Nachtwächter , der mit Besuchern durch die Stadt zieht, sondern auch als Hans-Sachs-Spieler. Beim alljährlichen Heimatsspiel ist er der Kaspar von der Rhön.
Baldur Kolb konnte ihn, zum zweiten Mal übrigens, für das Erzählcafé in Sankt Elisabeth gewinnen. Vieles erinnerte die meist etwas älteren Zuhörerinnen und Zuhörer an ihre Jugend. "Ich bin kein Mürschter, denn das wird man nur durch Geburt", musste Rainer Kirch gestehen. Seinen ersten Wohnsitz hat er erst seit 1967 in der Stadt. Er kam allerdings schon 1956 ins Studienseminar. Im letzten Jahr seiner Schulzeit war er allerdings Stadtschüler, "da mir die Zucht im Seminar zu schlimm war". In jenem letzten Jahr lernte er auch eine junge Dame kennen, die noch heute als seine Ehefrau an seiner Seite ist.
"Ein-Mann-Musikschule"
Einiges wusste Kirch über das Obere Tor zu berichten. Es ist mit 36,6 Metern das höchste Stadttor in Unterfranken, sogar noch ein paar Zentimeter höher als das Hohntor in Bad Neustadt. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wohnte oben in der Türmer-Wohnung der Stadt-Türmer mit seiner Frau. Wichtigste Aufgabe dieses Türmers war es, die Bürgerinnen und Bürger bei Bränden zu warnen. Mit seinem lauten Horn und einem Brand-Glöcklein sollte er die Feuerwehr alarmieren und alle übrigen Bürger warnen. Dieser Türmer spielte gut Trompete und Posaune. Er unterrichtete Münnerstädter Buben und war sozusagen eine "Ein-Mann-Musikschule" im Kleinen. Als er 1878 seine Türmer-Stellung aufgab, wurde kein Nachfolger mehr eingestellt.
Interessant ist auch: Die Durchfahrt durch Münnerstadt (die Umgehungsstraße gab es ja noch lange nicht) war bis 1928 mautpflichtig. Die heutige Veit-Stoß- und Riemenschneiderstraße war die einzige, die gepflastert war. Ein Schuhmacher, der seine Werkstatt im heutigen Bürgerbüro im Rathaus hatte, hatte als Nebenerwerb die Maut von der Stadt ersteigert. Für jeden Personenwagen verlangte er eine Mark. Sogar Tiere, die durch die Stadt getrieben wurden, kosteten: Für Schafe verlangte er fünf Pfennig, für Pferde, Kühe oder Bullen 20 Pfennig.
Statt Gold Holzkiste mit Pferdeäpfeln
Besonders aufmerksam hörten die Senioren zu, als Rainer Kirch die Geschichte vom Goldrausch erzählte, denn sie trug sich Anfang der 1950er Jahre zu, und viele konnten sich deshalb noch gut daran erinnern. Im Zweiten Weltkrieg war eine gotische Marienkapelle aus dem Jahr 1420 zerbombt worden. Sie stand in der Veit-Stoß-Straße, dort wo später das Haus mit Elektro-Schlegelmilch im Erdgeschoss errichtet wurde. Ein Stadtrat Gattenhof soll im Zuge der Belagerung der Stadt durch die Schweden während des Dreißigjährigen Krieges einen Goldschatz vergraben haben. Das verbreitete im 19. Jahrhundert der Lokalhistoriker Nikolaus Reininger in einem Buch über die Geschichte von Münnerstadt . Ein Handwerker glaubte fest daran, dass dieser Schatz im Bombentrichter der Marienkapelle zu finden sei. Er ließ ab 1950 dort graben. Ein Arbeitslosen-Trupp fand aber nichts. Kartenleger und Wahrsager brachten ihn nicht weiter, nicht einmal "Zeta" aus Berlin, die viel Geld für ihre "Hinweise" verlangte. 1951 wurde weiter gegraben. "Ganz Münnerstadt war elektrisiert", wusste Kirch. Ende des Jahres wurde ein Menschenknochen gefunden. 1952 waren wieder Kartenleser oder Parapsychologen am Werk, auch Stadtpfarrer Pater Odilo versuchte es erfolglos mit Pendeln. Dem Handwerker ging so langsam das Geld aus, deswegen wurde eine Bürger-AG gegründet, in die viele 20, 50 oder 100 Mark einzahlten. Endlich, Anfang 1953 wurde eine Holzkiste gefunden - aber sie enthielt nicht den erhofften Schatz des Gattenhof, sondern noch frische stinkende Pferdeäpfel. Diesen Streich hatte ein Stammtisch dem Handwerker gespielt, der nun entnervt aufgab.
Misthaufen vor den Gericht
Das ehemalige Amtsgericht am Anger war von 1804 bis 1860 Landgericht. Hier residierte Januarius Kelleri, der nicht nur Richter, sondern auch Landrat für 23 Gemeinden und sogar oberster Polizeichef war. 1820 nahm er sich die hygienischen Zustände in der Stadt vor und machte den Bürgermeister persönlich dafür haftbar, dass innerhalb von zehn Tagen die Misthaufen und die Abortgruben verschwinden. "Ihm hat ein Misthaufen direkt vor dem Gericht gestunken", schmunzelte Kirch. Bei Nichtbefolgung sollte der Bürgermeister 20 Goldmark, das ist war für ihn ein halbes Jahresgehalt, bezahlen. Die hygienischen Verhältnisse waren in der Tat sehr schlecht. Wasserleitungen gab es noch nicht, Trinkwasser wurde aus Brunnen geholt, die zum Teil Flachbrunnen waren. 1874 erkrankten 700 Bürger an Typhus, innerhalb von vier Wochen starben 90 von Ihnen.
Zum Schmunzeln war die Geschichte von der verschwundenen Kuh: In der Bauerngasse wurde durch Bomben ihr Stall zerstört, und sie flüchtete in die umliegenden Wälder. Der Bauer hätte sie gerne wiedergehabt, doch alle Suchaktionen blieben erfolglos. Viel später erfuhr er, dass ein Nüdlinger Bauer sie eingefangen und behalten hatte. Doch alle Bemühungen, seinen Namen herauszufinden, blieben erfolglos - der Nüdlinger hatte das seinem Pfarrer gebeichtet, und der gab natürlich keinen Namen preis.
Kirch will wiederkommen
In den "besseren Kreisen" hatte man in früheren Jahrzehnten Dienstmädchen. Bei einem Münnerstädter Dentisten war ein junges Mädchen aus Burglauer in Stellung. Erst nach zwei Monaten durfte sie einmal wieder nach Hause. Sie war wegen der Arbeit im Haus sehr blass, während ihre Freundinnen, die auf dem Feld gearbeitet hatten, natürlich braun gebrannt waren. "Du musst dich jeden Tag wäsch, sogar mit Seif, deswegen bist Du so bleech", stellten die Freundinnen bedauernd fest.
Es war ein vergnüglicher Nachmittag mit Rainer Kirch. Er versprach, ein drittes Mal zum Erzählcafé zu kommen, denn er hat noch viel zu erzählen.