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Münnerstadt
Wie der Geflüchtete und der Hausarzt beste Freunde wurden
Der Münnerstädter Bernt Sieg ist blind und Rollstuhlfahrer. Ohne Dinka Shihima aus Äthiopien wäre er aufgeschmissen, dann könne er auch gleich sterben, sagt Sieg. Warum die Freundschaft bedroht ist.
Ziemlich beste Freunde sind der Münnerstädter Bernt Sieg und Dinka  Shihima       -  Egal, wo Dinka  Shihima und Dr. Bernt Sieg auftauchen: Die Assoziation zum berühmten Film 'Ziemlich beste Freunde' schießt einem sofort durch den Kopf. Und wirklich: Die beiden wurden beste Freunde, der Flüchtling und der frühere Hausarzt. Ohne Dinka und seine Hilfe, sagt Bernt Sieg, könnte er 'auch gleich sterben'.
Foto: Susanne Will | Egal, wo Dinka Shihima und Dr. Bernt Sieg auftauchen: Die Assoziation zum berühmten Film "Ziemlich beste Freunde" schießt einem sofort durch den Kopf.
Susanne Will
 |  aktualisiert: 19.03.2025 02:42 Uhr

Ein schwarzer Mann schiebt einen weißen Mann im Rollstuhl durch die Bad Kissinger Fußgängerzone. Sie lachen. Sie blödeln. Sie reden. Wer sie beobachtet, hat unweigerlich den Film „Ziemlich beste Freunde“ im Kopf.  Und das sind sie, beste Freunde: Dr. Bernt Sieg (78)  und Dinka Diga Shihima (49). Wie der Arzt aus Münnerstadt und der Flüchtling aus Äthiopien unzertrennlich wurden, ist so zu Herzen gehend wie das Kino-Meisterwerk. Denn Bernt Sieg ist wie im Film krank. Und Dinka Shihima kümmert sich um ihn. Der Arzt: „Wenn Dinka abgeschoben werden würde, dann könnte ich gleich sterben.“

Der Arzt wuchs in Äthiopien auf

Wäre diese Geschichte ein Film – er würde wohl bei den Zuschauern durchfallen. Zu viele Zufälle, als dass man nicht von Kitsch reden könnte. Doch tatsächlich ist es wahr, dass Bernt Sieg eine besondere Beziehung zu Äthiopien hat – er wuchs in dem Land am Horn von Afrika auf, das sein Freund Dinka verlassen musste, weil es für ihn keine Zukunft mehr gab.

Dass Bernt Sieg als Rentner allerdings Lebensfreude und Lebensqualität durch einen Äthiopier erfährt, war nicht vorherzusehen.

Nächstenliebe verbindet beide

Was Bernt Sieg und Dinka Shihima verbindet, ist Nächstenliebe. Bernt Siegs Leben war und ist geprägt vom Gefühl, dem Nächsten Gutes zu tun.  Er war Jahrzehnte lang ein sehr beliebter Allgemeinarzt in Wülfershausen, er hatte die größte Praxis in ganz Unterfranken. 2002 zog er  nach Münnerstadt zu seiner langjährigen Partnerin Bärbel Fürst. Noch heute schwärmen seine Patienten und Patientinnen von dem Hausarzt, der stets den ganzen Menschen einschließlich dessen Seele im Fokus hatte.

Dinka Shihima ist eines von sieben Kindern eines evangelischen Priesters in Äthiopien. „In unserer Familie waren Werte wichtig. Einer davon war, dass wir uns um unsere Mitmenschen kümmern müssen. Immer.“, sagt Dinka Shihima. „Jetzt kümmere ich mich um den Doktor. Er hat so viel Gutes für viele Menschen getan – das gebe ich ihm jetzt zurück. Und ich kann mich damit auch bei Deutschland bedanken.“

In Äthiopien müsste Dinka Shihima in den Krieg

Dinka Shihima war Lkw-Fahrer, arbeitete auf Kaffeeplantagen in Äthiopien. Heute, sagt er, ersticke seine Heimat in Korruption, Menschenrechte existierten quasi nicht. Käme er zurück, würde er unweigerlich zum Kämpfen gezwungen werden – noch immer bekriegen sich verschiedene Bevölkerungsgruppen ohne Rücksicht auf Verluste. Er würde entweder fürs äthiopische Militär oder für die Freiheitsrebellenfront der Bevölkerungsgruppe der Oromo kämpfen müssen. Die Angst, dabei sein Leben zu verlieren, ist riesengroß. 

Flüchtlingsboot kenterte

Schon sein Bruder fiel im Krieg gegen Eritrea. Als Dinka 2015 keine Zukunft mehr für sich in seiner Heimat sah, machte er sich auf den Weg. Sechs Monate war er unterwegs, zu Fuß, per Boot. Zusammen im Flüchtlingstreck mit Syrern und anderen vor Krieg, Verfolgung und Not flüchtenden Menschen. „Da war sich jeder selbst der Nächste“, sagt Dinka Shihima. Das führte zu lebensgefährlichen Situationen. „Ein Flüchtling ist durchgedreht und hat unser Schlauchboot kurz vor Samos mit einem Messer zerstört.“

Shihima kämpfte im Meer um sein Leben, verlor das wenige, das er bei sich hatte – darunter auch seinen Pass, was ihm später Probleme einbringen sollte, die ihn oft vor Sorgen nicht schlafen lassen. Er wurde damals von der Marine gerettet. „Aber 18 Menschen ertranken“, sagt er.

Über Griechenland nach Münnerstadt

Irgendwann landete er in Zirndorf, in der zentralen Aufnahmestelle wurden die neuen Wohnorte für Flüchtlinge zugewiesen. Dinka kam  auf den Schindberg in Münnerstadt.

„2016 lernte ich ihn kennen“, sagt Bärbel Fürst, die Partnerin von Bernt Sieg. Zusammen mit zwei Freunden organisierte die zupackende Frau Deutschkurse für die Neu-Münnerstädter. Und darunter war eben Dinka.

Der freundliche, zugewandte und empathische Äthiopier eroberte schnell die Seele der Unterstützerin. Und so lernte Dinka  Shihima auch Bärbel Fürsts Mann Bernt Sieg kennen. Und der war bereits voller Vorfreude, denn: Bernt Sieg ist in Äthiopien aufgewachsen.

Jugend in Hongkong, Bagdad und Teheran

Der 78-Jährige kann auf ein beneidenswert buntes Leben blicken: „Mein Vater lebte als deutscher Ingenieur in der Mongolei. Wegen seines Berufs bin ich in der Welt herumgekommen, war als Bub in Hongkong, Bagdad und Teheran. Als ich elf Jahre alt war, zogen wir nach Äthiopien.“

Endlich konnte er in Münnerstadt bei Gesprächen mit Dinka sein Amharisch, die Amtssprache in Äthiopien, wieder aufleben lassen. Seine Erinnerungen ans Land waren Balsam für den heimatfernen Dinka. In langen Gesprächen kamen sich die Männer näher.

Der Arzt schlug sich als Krokodiljäger durch

Bernt Sieg erzählte ihm, wie er erst von elf bis 14 Jahren auf dem Kontinent lebte, dann kurz das Land aus politischen Gründen verlassen musste – um so bald wie möglich wieder zurückzukehren nach Äthiopien, wo er sich auch als Krokodiljäger durchschlug. Mit 22 kehrte er Äthiopien den Rücken, er machte sein Abitur in Deutschland nach und studierte Medizin.

Bis 2021 war Bernt  Sieg eine echte Erscheinung: groß, kräftig, mitten im Leben, Mitglied der Münnerstädter „Literanten“, eine Literatur-Gruppe, die mit witzigen, nachdenklichen Lesungen auftrat. Blitzschnell im Kopf, ausgestattet mit Intelligenz, Charme und Witz – das alles ist ihm geblieben, aber der Körper wollte nicht mehr so funktionieren.

Der Arzt wurde plötzlich blind und taub

„In der Coronazeit erblindete ich“, erzählt er. Nur fünf Prozent Sehkraft haben seine Augen aufgrund einer Autoimmunerkrankung noch. Auch die Ohren machten schlapp, ein Hörgerät hilft ihm. Dazu kommt ein Rückenleiden, das ihm nur noch einzelne Schritte ermöglicht, mehr aber nicht. Nur im Rollstuhl ist er mobil.

Als Bernt Siegs körperliche Abbau begann, wurde auch Dinkas Welt in Münnerstadt düsterer. Bis 2020 erhielt er eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung. Dass er keinen Pass vorlegen konnte, da das Dokument beim Bootsdrama ebenso in der Tiefe des Meeres verschwand wie seine anderen Habseligkeiten, war so lange kein Problem, solang der Asylverfahrensprozess andauerte.

Der Flüchtling fand seinen Lieblingsjob als Müllwerker

Und deshalb hatte er auch eine Arbeit. In der ging der Lkw-Fahrer auf: Er wurde Müllwerker bei der Firma Seger. „Ich habe die Arbeit geliebt, ich kenne im Landkreis jede Gasse, von Motten-Kothen bis Oberthulba.“ Er habe sich jeden Tag auf die Arbeit, die Kollegen und die Mitmenschen gefreut, „alle waren immer sehr freundlich zu mir“. Kein Wunder: Wer Dinka Shihima gegenübersteht, lächelt automatisch – ihn umgeben Freundlichkeit und Sanftheit.

Ohne Pass keine Arbeit

Dann kam das Aus. Ohne Pass keine Identitätsklärung und damit keine Arbeit.  Dazu die ständige Angst, abgeschoben zu werden. Und plötzlich war Dinka Shihima weg. Er war wieder auf der Flucht. „Ich bin nach Frankreich gegangen, dachte, dass ich da sicherer wäre als in Deutschland.“

Weit gefehlt. Dinka Shihima schlief auf der Straße, einen Job fand er natürlich nicht – und nach acht Monaten stand er wieder bei Bernt Sieg und Bärbel Fürst vor der Tür. Und die waren überglücklich, ihren Freund wieder in die Arme schließen zu können.

Angst vor Abschiebung ständig präsent

Seitdem lebt Dinka Shihima wieder am Schindberg in Münnerstadt. Arbeiten darf er nicht, die Angst, abgeschoben zu werden, ist immer präsent. Jede Arbeit würde er annehmen, sagt er, auch ein Praktikum im Pflegebereich habe ihm sehr gut gefallen.

Eine Arbeit hat er nicht, aber eine Aufgabe, für die er sich verantwortlich gemacht hat. Je schlechter es Bernt Sieg ging, desto öfter besuchte Dinka Shihima ihn. Je immobiler Bernt Sieg wurde, desto öfter schob Dinka ihn im Rollstuhl nach draußen. Je weniger Bernt Sieg sah, desto mehr wurde Dinka zu seinen Augen.

"Blind zu werden ist das Schlimmste"

Bernt Sieg: „Blind zu werden ist das Schlimmste. Aber: Ich leide nicht. Es gibt so viel Schlimmes, was ich in meinem Leben gesehen habe. Hunderte von Leichen beispielsweise in äthiopischen Flüchtlingscamps. Im Verhältnis dazu geht es mir gut. Ich habe eine großartige Frau, die mir hervorragend in allem hilft, die die Problemlöserin und Managerin ist. Außerdem kocht sie fantastisch für mich – was will ich mehr. Und ich habe Dinka, meinen Freund.“

Und der macht seine eingeschränkte Welt jeden Tag ein Stückchen heller und größer. Dinka polstert täglich den Rollstuhl mit einem weichen und warmen Schaffell aus, dann schiebt er Bernt Sieg durch Münnerstadt und erzählt, was er sieht. „Und ich korrigiere sein Deutsch, auf dass es besser wird.“ Mit großer Achtung redet Dinka Shihima Bernt Sieg nur mit „Doktor“ an. Bärbel Fürst ist eine zierliche Frau. „Ich bin so dankbar für Dinkas Hilfe. Ich könnte den Rollstuhl nicht über das Kopfsteinpflaster schieben.“

"Die Liebe zu anderen Menschen ist da Wichtigste für uns"

Und wenn sie in Bad Kissingen bummeln, dann werden sie oft angesprochen, der schwarze und der weiße Mann, die sich dabei unterhalten, die viel lachen. „Das ist ja wie in ,Ziemlich beste Freunde‘“, sagten die begeisterten Fremden dann. „Und so ist es“, bestätigt Bernt Sieg. „Dinka ist mir sehr ans Herz gewachsen und ich ihm auch. Wir sind sehr gute Freunde. Weil wir uns auch in unserem inneren Grundsatz sehr gleich sind: Die Liebe zu anderen Menschen ist das Wichtigste für uns.“

Dass beide über denselben trockenen Humor verfügen, macht die Treffen oft zu federleichten Stunden, die Dinka Shihima kurz seine schwere Situation vergessen lassen: die bodenlose Angst, abgeschoben zu werden. An solchen Tagen gefragt, wie es ihm geht, antwortet er breit lächelnd: „Tausendmal gut.“

Dinka Shihima erhält kein Geld für seine Fürsorge

Geld für die Pflege erhält Dinka Shihima keines, er würde auch keines annehmen. Bärbel Fürst: „Er tut das auch für Deutschland, er will der Gesellschaft etwas zurückgeben. Er liebt Deutschland und ist dem Staat gegenüber sehr loyal eingestellt.“ Er kümmert sich nicht nur um den 78-Jährigen. Im Flüchtlingshaus in Münnerstadt ist er der einzige, der sich um einen chronisch kranken Mitflüchtling sorgt.

Und doch könnte die Katastrophe passieren: dass Dinka Shihima abgeschoben wird, da seine Identität nicht geklärt ist. Es wäre auch für Bernt Sieg eine Katastrophe. Der frühere Arzt: „Wenn er nicht da wäre, würde mir die Mobilität fehlen, die Freude aufs Rauskommen. Denn ich kann nur Freunde treffen, wenn er mich hinfährt. Ich würde fast sagen, mir würden ohne Dinka 90 Prozent meines Lebens fehlen.“

Beide haben noch einen Traum

Und wenn Dinka nicht mehr ist, wiederholt er, „dann kann ich auch gleich sterben“. Dinka hört den Satz. Seine Augen schimmern feucht. Es ist Bärbel Fürst, die die traurige Situation auffängt. „Aber noch haben die beiden Männer einen Traum. Dass sie beide irgendwann gemeinsam Äthiopien besuchen können.“ Bernt Sieg dreht den Kopf zu Dinka Shihima. Sie lächeln. Ein wenig traurig.

 

 

 

 

 
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Kommentare
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  • Barbara Will
    Das ist sehr schade, dass jemand der sich integriert keine Möglichkeit hat sich in Deutschland zu legitimieren.
    War der Thema Adoption schon mal angedacht?
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