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Bad Kissingen
Bad Kissinger in Kasachstan: "Dann haben wir Maschinengewehre feuern gehört."
Den Bad Kissinger Philipp Dippl zog es vor einigen Jahren nach Kasachstan. Bei den heftigen Straßenschlachten in den vergangenen Tagen erlebte er in Almaty Tage zwischen Alarmsirenen, Ausgangssperre und Schießbefehl - die Chronik eines Gewaltexzesses.
Spuren des Protests: Das Rathausgebäude in Almaty ist während der Ausschreitungen abgebrannt. Foto: Sergei Grits/AP/dpa       -  Spuren des Protests: Das Rathausgebäude in Almaty ist während der Ausschreitungen abgebrannt. Foto: Sergei Grits/AP/dpa
| Spuren des Protests: Das Rathausgebäude in Almaty ist während der Ausschreitungen abgebrannt. Foto: Sergei Grits/AP/dpa
Johannes Schlereth
 |  aktualisiert: 16.08.2022 22:40 Uhr

Philipp Dippl muss die Erlebnisse der vergangenen Tage noch ordnen. "Vieles, was wir gesehen und erlebt haben - das müssen wir erst verarbeiten", sagt er im Video-Telefonat via Skype. "Wir, das sind meine Frau und ich." Der 33-Jährige Bad Kissinger lebt seit fast vier Jahren bei seiner Frau in der ehemaligen kasachischen Hauptstadt Almaty, arbeitet dort als Reporter, Übersetzer und betreibt eine Bar. Derzeit entlädt sich in Kasachstan die Unzufriedenheit der Einwohner. Zunächst geschah das friedlich. Am Ende forderten die Unruhen 225 Menschenleben - so aktuelle Zahlen - darunter Demonstranten aber auch Staatskräfte, wie Polizisten. Gegenüber der Redaktion schilderte er seine Eindrücke von den Erlebnissen.

Unruhen in Kasachstan: Das waren die Ursachen

Auslöser für die heftigen Krawalle war letztlich Geld. "Eigentlich war Gas für die Bevölkerung subventioniert. Dann kam von der Regierung der Entschluss, den Gaspreis am Weltmarktpreis auszurichten", umreißt der gebürtige Bad Kissinger die Ausgangslage. Die Folge: "Der Gaspreis hat sich über Nacht verdoppelt." Das kam - gerade bei den Arbeitern in den Gaswerken - nicht gut an. "Sie tragen übermäßig zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes bei, leben aber übermäßig schlecht." Schon vor zehn Jahren gab es deshalb im Westen Kasachstans heftige Unruhen mit Todesopfern. Auch heuer ging der Funke wieder von der Öl- und Gasregion aus. "Was niemand erwartet hatte, war, dass die Bevölkerung in ganz Kasachstan sich mit den Arbeitern solidarisierte und auf die Straße ging."

Demonstranten: "Geh, alter Mann!"

Hinzu kam noch der angestaute Frust über die Seilschaften einer korrupten Regierung: Der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew hatte mit seiner Familie großen Einfluss auf die Politik des Landes. Und: Der Wohlstand, der zum Teil auf den Gasfeldern fußt, fließt teils in die Taschen seines Clans. Bei den Demonstrationen skandierte die Menge daher: "Geh, alter Mann!"

So auch in Philipp Dippls Wohnort Almaty. Am 4. Januar erfuhr er über die sozialen Medien, dass sich außerhalb des Stadtzentrums Leute sammeln und auf die Straße gehen. Er und seine Frau gingen noch Einkaufen, legten sich die wichtigsten Vorräte an und informierten Freunde und Familie über ihren Plan: sich in der Wohnung zu verbarrikadieren. "Entlang der Route des Protestzugs waren einzelne brennende Autos." Das Ziel: der Platz der Republik, das Zentrum Almatys. Dort befinden sich die wichtigsten politischen Verwaltungsgebäude der Stadt.

Dieser ist für Philipp Dippl Dreh- und Angelpunkt der Ausschreitungen, was mit der Geschichte zusammenhängt. "Der Platz ist Symbol der Unabhängigkeit Kasachstans. Schon 1986 demonstrierten dort Studenten für die Unabhängigkeit."

Allerdings: Die Sowjetmacht knüppelte damals die Demonstranten nieder. Bis heute gibt es kaum Infos zu den Opferzahlen . "Im Fokus der Gedächtniskultur des Staates stehen laut dem 33-Jährigen, der russische Kultur in Bochum und Moskau studiert hat, nicht die Toten, sondern die Unabhängigkeit. "Dass dort Leute gestorben sind, wird in der Öffentlichkeit kaum thematisier. Und das, obwohl alle wissen, was passiert ist." Für ihn ist klar: Wenn etwas wichtiges Politisches passiert, dann dort.

Direkte Nähe zum Geschehen

Er und seine Frau wohnen etwa 20 Geh-Minuten vom Platz der Republik entfernt. "Beim Blick aus dem Fenster war immer ein Blitzen und Flackern zu sehen." Die Polizei setzte Blend- und Reizgasgranaten ein. Im Lauf der Nacht nahmen die Explosionen zu. "Es ist unfassbar laut gewesen." Erst um fünf Uhr am Morgen hätten er und seine Frau Schlaf gefunden. "Am nächsten Morgen hat das Wlan noch funktioniert. In den Nachrichten war zu lesen, dass es keine Toten, dafür aber Verletzte gegeben hat." Er war verwundert. "Die Polizei schießt hier aus Erfahrung scharf. Aber: Das ist nicht passiert. Wir dachten: Vielleicht ändert sich wirklich etwas?"

Am nächsten Tag unternahmen die beiden einen Spaziergang in Richtung des Zentrums, um die Lage aus sicherer Entfernung zu sondieren. Vom Militär und der Polizei fehlte jede Spur. "Das Bürgermeisteramt brannte und war gestürmt." Und: Die Menschen auf dem Platz waren mit erbeuteter Polizeiausrüstung bewaffnet. "Es ging das Gerücht um, dass die Residenz des Präsidenten - ein Symbol der Staatsmacht am Platz - gestürmt werden sollte." Nach einer Weile verlagerten sich die Massen tatsächlich in diese Richtung. "Dann haben wir Maschinengewehre feuern gehört. Daraufhin sind wir nach Hause gegangen."

Wenige Informationsquellen

Das Militär schoss scharf. "Als die Menschen die Residenz eingenommen haben, muss es extreme Gewaltausschreitungen gegeben haben." Es gehen Gerüchte von totgeprügelten Menschen und abgeschnittenen Köpfen um. Die Lage eskalierte. "Am 5. und 6. Januar war keine Polizei , kein Militär und keine Feuerwehr zu sehen. Es herrschte Anarchie. Der Staat war nicht mehr existent. Geschäfte wurden geplündert, das Internet war abgeschnitten und Informationen kaum zu bekommen." Ihre wenigen Informationen erhielten die beiden über ein kleines Radio, das nach einigen Tagen Sendepause offizielle Nachrichten kundtat und über den Festnetzanschluss zur Familie seiner Frau. "Nach wie vor ist so vieles unklar. Als das Internet vergangene Woche wieder da war, sind alle Kanäle heißgelaufen. Wir müssen das erstmal bündeln und sortieren." Die ersten Nachrichten glichen sich bei vielen seiner Kontakte: "Uns geht es gut. Uns ist nichts passiert. Wir sind daheim."

Selbstverständlich war das jedoch nicht. In der Nacht zum 7. Januar eroberten Fallschirmjäger den Flughafen Almatys zurück. "Dann kam der Entschluss des Präsidenten, Friedenstruppen reinzuholen. Vom Flughafen ausgehend wurde Almaty dann mehr oder weniger zurückerobert." Parallel dazu liefen sogenannte Antiterror-Einsätze. Dabei machten Regierungstruppen Jagd auf Menschen, die sich bei den Ausschreitungen beteiligt hatten. Für den Präsidenten Qassym-Schomart Toqajew handelte es sich dabei um Banditen und Terroristen. Es herrschte eine Ausgangssperre zwischen 23 und 7 Uhr. Und: Es gab einen Schießbefehl. "Dann war klar: Wir gehen nicht mehr raus. Es sind viele Menschen gestorben. Soweit ich weiß, laufen immer noch Antiterroreinsätze, in den Randgebieten gibt es immer noch Schießereien, um sogenannte Terroristen aufzuspüren."

Angespannte Lage

"Das Erschütterndste ist die Gewalt, die sich entladen hat. Es gibt grauenvolle Aufnahmen mit Leichensäcken. Die Menschen sind abgeschlachtet worden. Wie viel von den offiziellen Zahlen zu halten ist, weiß ich nicht." Was sich zeige, ist, dass es extreme Gewalt auf beiden Seiten gebe. "Wo wir leben, ist eine sehr sichere Gegend. Der Ausnahmezustand mit etwa der Ausgangssperre gilt noch bis zum 19. Januar.

Kasachstan und Russland

Eine teils von westlichen Medien befürchtete Landnahme durch Russland sieht er nicht - auch wenn russische Truppen als Teil eines Militärbündnisses postsowjetischer Staaten in Almaty vor Ort waren. "Ich sehe das zunächst als inneren Konflikt an. Die Regierung hat schnell nach Truppen gerufen. Und: Die Truppen haben das Land sehr schnell und geräuschlos verlassen. In Almaty sind keine russischen Soldaten mehr vor Ort. Soweit es bekannt ist, haben sie sich nicht an den Anti-Terror Einsätzen der Regierung beteiligt, sondern waren zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung da. Es war eine Friedensmission . Die Rolle Russlands wird sehr überhöht wiedergegeben. Das spricht für mich gegen Theorie, dass Russland Einfluss auf Kasachstan nehmen möchte." Tagsüber hat sich die Lage mittlerweile wieder beruhigt. Aber: "Nachts ist es gespenstisch still. So still wie noch nie. Wenn man aus dem Fenster schaut - es ist gruselig und furchteinflößend."

Für Philipp Dippl stellen sich mittlerweile einige Fragen. "Wer und was hinter den Ausschreitungen steckt, können wir nicht sagen. Der ehemalige Präsident Nursultan Nasarbajew ist von der Bildfläche verschwunden, was zu Spekulation anregt. Hat er das Land verlassen? Präsident Toqajew hat seitdem sämtliche Ämter in der Regierung ausgetauscht. Einige Familienmitglieder von Nasarbajew haben jetzt kein Amt mehr oder das Land verlassen. Ist das alles ein Machtkampf?"

Bis Klarheit herrscht, kann es laut ihm noch dauern. Bis dahin wollen er uns seine Frau sich in ihrer Bar Stück für Stück in die Normalität zurückfinden. "Es geht darum, ein Sicherheitsgefühl aufzubauen, dass man beispielsweise ohne Bedenken abends essen gehen kann." Seine Familie in Bad Kissingen muss sich laut ihm jedoch keine Sorgen machen. "Wir waren nicht unmittelbar betroffen von den Unruhen und meine Mutter weiß, dass ich sehr auf die Sicherheit achte.

 
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