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Bad Kissingen
Gequälte Kinder: So können Sie Signale der Opfer erkennen
Jüngst wurde ein Mann wegen Kindsmissbrauchs verurteilt. Viele fragen sich: Hätte ich etwas bemerken können? Ja, sagt eine Bad Kissinger Expertin. Aber nur, wenn Sie sich vom größten Tabu befreien.
Verdacht sexueller Missbrauch       -  Jeden Tag werden in Deutschland 48 Kinder sexuell missbraucht. Wie kann ich die Signale der kleinen Opfer richtig deuten?
Foto: Annette Riedl/dpa/dpa-tmn | Jeden Tag werden in Deutschland 48 Kinder sexuell missbraucht. Wie kann ich die Signale der kleinen Opfer richtig deuten?
Susanne Will
 |  aktualisiert: 05.08.2024 02:39 Uhr

Zu neun Jahren Gefängnis wurde im März 2024 ein Mann aus einer Kleinstadt im Landkreis Bad Kissingen verurteilt. Er hatte knapp zwei Jahre lang die Tochter (heute 12) einer Ex-Freundin schwer sexuell missbraucht , an Pfingsten 2023 auch noch deren damals zehnjährigen Freundin. Erst, als die sich ihrer Mutter offenbarte, flog der 47-Jährige auf.

"Ich schäme mich so, dass ich nichts bemerkt habe"

Auch wenn der genaue Tatort zum Schutz der Mädchen nicht genannt wurde, hat es sich doch herumgesprochen, wer der 47-Jährige ist und wo er wohnte. Der Mann hatte Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen. Viele von denen fragen sich nun: Hätte ich etwas bemerken können? Hätte ich den Mädchen helfen können? „Ich schäme mich so, dass ich nichts bemerkt habe“, sagt eine Bekannte, die zu Täter und Opfer in der Zeit des Missbrauchs Kontakt hatte.

„Es besteht kein Grund zur Scham“, sagt Miriam Nusser. Sie ist Diplom-Pädagogin und leitet im Caritas-Verband Bad Kissingen die Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche. Außerdem ist sie Leiterin des Fachbereichs Beratungsdienste der Caritas .

Sexueller Missbrauch: Nur wer auch daran denkt, kann handeln

Jedoch, sagt sie, gebe es einen sehr wichtigen Punkt, der Außenstehenden erst ermöglicht, sexuellen Missbrauch zu erkennen: „Wir müssen anerkennen, dass es möglich ist, was wir für unmöglich halten. Nämlich, dass es in unserem direkten Umfeld, in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis Täter geben kann. Wenn wir das nicht für möglich halten, haben wir alle einen blinden Fleck.“

Mit dem Tabu können die Opfer nicht gesehen werden

Solange tabuisiert wird, dass Täter – und Täterinnen – in allen möglichen Gesellschaftsschichten anzutreffen sind, werden, so Nusser, auch die Übergriffe nicht gesehen, weil sie nicht gesehen werden können.

„Bei uns passiert das nicht, nicht bei unseren Freunden, die sind doch alle so nett – das funktioniert nicht“, bringt Miriam Nusser es auf den Punkt. „Und das macht uns blind für mögliche Anzeichen.“ Und die kann es geben, sagt die Expertin. „Aber erst, wenn wir uns vorstellen, dass es in unserem Umfeld Täter gibt, sind wir handlungsfähig, Anzeichen zu erkennen.“

Körperliche Anzeichen sind einfacher zu erkennen - für Ärzte und Ärztinnen

Natürlich kann es körperliche Anzeichen geben, wenn Kinder sexuell missbraucht werden. In diesem Fall können allerdings meist nur der Ärzte und Ärztinnen bei Untersuchungen die richtigen Schlüsse ziehen, woher Abschürfungen oder blaue Flecken kommen könnten.

Für Freunde, Bekannte, Familie ist es schwieriger. „Aber es gibt Anzeichen, die auf sexuellen Missbrauch deuten können“, sagt Nusser. Wenn sich beispielsweise ein Kind schlagartig verändere, „wenn es verängstigt ist, wenn es sich zurückzieht, wenn es eine komplette Wesensänderung zeigt, die sich nicht auf eine akute Situation zurückführen lassen“.

Oder wenn ein Kind plötzlich kleinkindliches Verhalten wie Bettnässen zeige, wieder am Daumen lutsche oder in Kindersprache verfällt, „das ist dann ganz markant“, sagt Miriam Nusser.

In der Schule könnten Konzentrationsprobleme, das Nachlassen der Leistung und hohe Ablenkbarkeit weitere Zeichen sein. „Das zeigt, dass das Kind mit etwas ganz anderem im Kopf beschäftigt ist oder Stress ausgesetzt ist. Das ist nicht immer, aber häufig ein Zeichen. dass etwas nicht stimmt.“

Distanzlosigkeit kann ein Hinweis sein

Immer wieder weist Miriam Nusser darauf hin, dass auch ihre Tipps oft Allgemeinplätze sind, aber dennoch den Blick schärfen können. „Zeigt ein Kind sexualisiertes Verhalten oder Sprache, ist es plötzlich distanzlos, zeigt es grenzüberschreitendes Verhalten, dass ich mir als Erwachsener denke, ,das Kind kommt mir aber sehr nah‘ , dann kann auch das ein  Hinweis sein, dass das Kind selbst Grenzüberschreitungen erfährt, mit denen es nicht umgehen kann.“

Aus ihrer Praxis spricht Miriam Nusser von anderen Beispielen. „Es gibt Fälle, in denen Kinder sich untereinander mitteilen. Wenn meine Tochter oder mein Sohn mir dann berichtet, gehört zu haben, dass der Papa der Freundin das Kind ,komisch‘ anfasst – dann muss ich das unbedingt ernst nehmen.“

Führen Sie ein Protokoll

Und dann? Was, wenn man einen Verdacht hat? „Das erste ist: Verfallen Sie nicht in Panik.“ Nusser rät aufzuschreiben, was man gehört, was man gesehen hat. Versehen mit Datum und Uhrzeit. „Je öfter ich etwas erzähle, desto mehr wird der Inhalt verwässert oder verfälscht“, weiß Nusser. Außerdem könnte eine Dokumentation später sehr hilfreich sein, wenn es um Beweise für die Polizei gehe.

Nusser warnt davor, den Täter oder die Täterin zu konfrontieren. „Außer, man wird direkt Zeuge einer sexuellen Handlung.“ Dann müsse man direkt reagieren und das Kind in eine sichere Umgebung bringen.  „Doch die allerseltensten Fälle sind so konkret, dass man beobachtet, wie der Großonkel der Fünfjährigen unter den Rock fasst.“

Verdacht? Sprechen Sie die Person nicht an

Der Hinweis, den Täter nicht gezielt anzusprechen, hat diesen Hintergrund: „Er könnte Beweismaterial verschwinden lassen.“ Im aktuellen Missbrauchsfall hatte der Täter über Jahre hinweg pornografische Handyfotos von seinem kleinen Opfer gemacht, die die Polizei entdeckt hatte. „Und die Ansprache ist auch nicht die Aufgabe eine Privatperson“, sagt Miriam Nusser.

Jeder kann sich ans Jugendamt wenden - auch anonym

Was können aber Privatleute machen? „Jeder, wirklich jeder, kann sich ans Jugendamt wenden. Auf Wunsch auch anonym in der Beratungsstelle. Es genügt ein Telefonanruf. Das darf und das soll jeder machen.“

Leider, sagt sie, sei es gemessen an der Statistik noch viel zu selten, dass Hinweise von außen an Fachkräfte  herangetragen wurden. „Bei der Masse an bekannten Fällen – und der viel größeren Dunkelziffer – sind diese Anrufe viel zu selten.“ Und natürlich stehe dieser Weg auch Opfern offen, „aber auch das ist leider zu selten, dass Opfer sich bei uns melden“.

Kinder müssen lernen, nein sagen zu dürfen

Miriam Nusser gehört auch einem Team an, das Kinder unterstützt, selbstsicher zu werden und das Gefühl zu erlangen, über ihren Körper bestimmen zu dürfen. Viele Kinder jedoch müssten lernen, nein sagen zu dürfen. „Und das fängt schon beim Küsschen für die Patentante an. Ein Kuss auf den Mund ist eine sehr intime Angelegenheit, daran müssen wir Erwachsene uns immer wieder erinnern. Das Kind muss äußern dürfen, dass es das nicht mag.“

Sie rät Eltern auch, Körperteile konkret zu benennen, mit Worten wie Penis oder Vulva unbefangen umzugehen. „So entwickeln Kinder weniger Scham und können leichter sagen, was ihnen widerfahren ist.“

Jeden Tag werden in Deutschland 48 Kinder Opfer sexueller Gewalt

Aus der Kriminalstatistik 2022 ging hervor, dass 48 Kinder jeden Tag in Deutschland Opfer sexueller Gewalt werden. Diese Stellen im Landkreis Bad Kissingen wollen dafür sorgen, dass es weniger Opfer werden – an jede einzelne können Sie sich wenden, wenn Sie einen Verdacht haben: 

Fachbehörde für Kinderschutz ( Landratsamt Bad Kissingen ): 0971/801-0

Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche ( Caritasverband Bad Kissingen): 0971/72469200

Fachberatungsstelle bei häuslicher und sexualisierter Gewalt (Schweinfurt): 09721 / 18 52 33

 
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