
Hände, von denen Blut tropft. Davon hat Olena Albert vor genau einem Jahr geträumt. Sie wusste, dass Putin ihr Heimatland angreifen würde. Seitdem steht ihr Leben Kopf. Um diese Zeit letztes Jahr lud sie Freundinnen ein, sie in Deutschland zu besuchen. Die, die gekommen sind, konnten nach dem 24. Februar nicht mehr zurück.
Allerdings, „der Krieg hat schon vor neun Jahren mit den Protesten auf dem Majdan in Kiew begonnen“, sagt die gebürtige Ukrainerin.
Leben von Tag zu Tag
Bereits seit 23 Jahren lebt Olena Albert in Deutschland. Von Saporischschja, einer Großstadt im Osten des Landes, ist sie nach Bad Kissingen ausgewandert. Hat hier geheiratet, Kinder groß gezogen und arbeitet als Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache .
Seit Kriegsbeginn ist alles anders: „Ich lebe nur von einem Tag auf den anderen. Ich warte jeden Tag, dass der Krieg aufhört, doch das tut er nicht.“ Bevor die Sorgen und Gedanken überhand nahmen, wurde sie aktiv.
Spontane Kundgebungen hat sie organisiert, Hilfslieferungen angestoßen, Ausstellungen mit ukrainischen Künstlerinnen veranstaltet. „Sie hat sehr vielen ukrainischen Familien, die hier in Bad Kissingen gestrandet sind, geholfen Fuß zu fassen“, sagt Inna Prokopenko. Auch sie ist direkt nach Kriegsbeginn aus ihrem Heimatland geflohen.
Helfen, das heißt bei Begleitung bei Behördengängen, eine Wohnung finden, Möbel dazu, beim Arztbesuch übersetzen, Orientierung geben. Viele Bekannte und Freunde sind bei Olena Albert vorübergehend untergekommen.
Eine Kleiderstube wurde eingerichtet, in der jetzt ukrainische Ehrenamtliche arbeiten. Ein provisorischer Kindergarten war zeitweise im Jukuz Anlaufstelle für geflüchtete Kinder. „Die Hilfsbereitschaft war und ist riesig. Ich habe etwas in die Wege geleitet und dann lief es von selbst“, sagt die 52-Jährige.
Gottesdienste für Seelenheil
Die seelische Betreuung der Geflüchteten sei ebenso wichtig, „deshalb habe ich einen ukrainischen Pfarrer gesucht, der hier ukrainisch-orthodoxe Gottesdienste abhalten kann.“ Pfarrer Gerd Greier stellte die Marienkapelle in der Bad Kissinger Innenstadt zur Verfügung und im September konnte der erste Gottesdienst auf Ukrainisch gefeiert werden.
Aber Olena Albert merkt auch anderenorts, was sich in diesem Jahr Krieg alles verändert hat. Sie unterrichtet Deutsch als Zweitsprache in Integrationskursen. Früher kamen ihre Schüler aus vielen verschiedenen Ländern. Heute ist einer von drei Kursen komplett belegt mit Schülern aus ihrem eigenen Heimatland.
„Da sitzen Frauen drin, die ihre Ehemänner zurücklassen mussten und nicht wissen, wann sie sie wiedersehen“, erzählt Albert. Und junge Witwen, die gerade erfahren haben, dass ihr Mann gefallen ist. „An manchen Tagen waren wir von den Ereignissen so schockiert, dass ein Unterricht kaum möglich war.“
Auch die Reaktion der Deutschen ist anders, wenn Albert von der Ukraine erzählt: „Früher musste ich immer erklären, dass ich nicht Russin bin und wo mein Heimatland liegt. Jetzt kennt es jedes Kind.“
Größeres Selbstverständnis
Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben durch diesen Krieg ein anderes Selbstverständnis bekommen und ein größeres Bewusstsein für ihr Land, ihre Kultur und ihre Sprache: „Jetzt verstehen sich viel mehr Landsleute als Ukrainer. Der Krieg hat die eigene Identität gefördert – das Gegenteil von dem, was Putin erreichen wollte.“
Was muss passieren, dass dieser Krieg beendet wird? „Sieg“, kommt Alberts Antwort prompt. Die Ukrainer seien bereit zu kämpfen, sie brauchen die Hilfe ihrer Verbündeten. „Die Ukraine siegt, aber wie viel Zeit und Menschenleben braucht es?“

Kurz nach Kriegsbeginn flüchtete Roman Sadovyi mit Frau und drei Kindern von Vasylivka bei Saporischschja zunächst in die West-Ukraine und nach Polen.
Dann wurde der Pfarrer nach Bad Kissingen eingeladen, um hier eine ukrainische Gemeinde zu leiten. „Wir sind der katholischen Kirche sehr dankbar, dass die Marienkapelle Anlaufpunkt für ukrainische Flüchtlinge sein kann. Jeder kommt mit seinem eigenen Schmerz hierher“, sagt Sadovyi.
Seine Kirche in der Heimatstadt wurde von russischen Truppen geplündert, „der Altar, Kerzenständer, alte Ikonen – alles wurde mitgenommen. Jetzt ist sie eine Kaserne für russische Soldaten.“
Das letzte Jahr war schwierig für ihn, er musste das Leben seiner Kinder beschützen und innerhalb von Minuten lebenswichtige Entscheidungen treffen. Jetzt geht der 39-Jährige unter der Woche in die Sprachschule, sonntags und feiertags hält er ukrainische Gottesdienste in Bad Kissingen ab: „Es kommen zwanzig bis dreißig Gläubige zu den Gottesdiensten, sogar aus Schweinfurt und Bad Neustadt. Auch Deutsche besuchen unsere Messen.“
Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Ukraine siegt: „und einen Ozean zwischen der Ukraine und Russland“, sagt er ironisch.

Im September hat die 16-Jährige ihre Heimatstadt Vasylivka verlassen, um in Bad Kissingen zur Schule zu gehen. Zurzeit besucht Christina eine Brückenklasse an der Anton-Kliegl-Mittelschule, wo sie neben Mathe und Englisch vorwiegend Deutsch lernt. Nebenher nimmt sie am Online-Unterricht ihrer ukrainischen Schule teil. Mit ihren Eltern und den zwei Geschwistern lebt sie in einer Wohnung in Poppenroth.
Wie sie das letzte Jahr beschreiben soll? – „Traurig“, sagt Christina nur. Sie macht sich viele Sorgen um ihr Zuhause, ihre Familie, ihr eigenes Leben. Ihre Oma ist noch dort, ihre Heimatstadt wurde besetzt, russische Soldaten leben in ihrem Haus. Die meisten ihrer Freunde leben nun in der Welt zerstreut. Ihre Freizeit verbringt die Schülerin mit Klavier spielen und Fahrrad fahren.
Christina wünscht sich „Frieden und dass ich zurück nach Hause gehen kann.“ Später möchte sie einmal Wirtschaft studieren und im Bereich humanitäre Hilfe arbeiten: „Ich möchte über die Ukraine informieren. Die Deutschen sollen viel mehr über die Ukraine erfahren, damit sie verstehen, warum ihre Hilfe so wichtig ist.“

Der 84-Jährige flüchtete Anfang April nach Bad Kissingen, drei Tage später erlitt Volodymyr Proskura einen Schlaganfall. „Ich bin den deutschen Ärzten, den Krankenschwestern und der deutschen Regierung unendlich dankbar, dass sie mich gerettet haben“, sagt Volodymyr Proskura. Den Schlaganfall führt er auf die ständige Anspannung in den Monaten vor Kriegsbeginn zurück.
Jetzt kann er bei seiner Tochter leben, die schon lange in Deutschland ist. Er würde gerne Deutsch lernen, doch es ist schwierig für ihn im Sprachkurs etwas zu verstehen, weil sein Gehör nicht mehr so gut ist: „Ich fühle mich sehr unwohl, wenn ich auf Deutsch angesprochen werde und nicht antworten kann.“
Was er sich für die Zukunft wünscht? – „Sieg, Sieg, Sieg“, sagt er und reckt die Faust. „Die ganze Welt muss aufpassen. Sie muss bereit sein, sich vereint gegen Russland zu stellen. Wenn wir nicht siegen, kommen sie auch hier her.“ Sein einziger Wunsch ist es, wieder nach Hause gehen zu können.

Inna Prokopenko ist kurz nach Kriegsausbruch aus Saporischschja nach Deutschland geflohen. Anfang März ist innerhalb weniger Minuten die Entscheidung gefallen, dass sie zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Enkel die Flucht mit dem Zug antreten sollte. Ihren Ehemann musste sie zurücklassen.
In ihrer Heimat hatte Prokopenko Deutsch studiert, deshalb konnte sie schon bald als Lehrerin an der Sinnberg-Grundschule ukrainische Kinder in Deutsch als Zweitsprache unterrichten. Dafür ist sie dankbar.
„Mein Leben hat jetzt zwei Seiten: Zum einen bin ich glücklich, hier in Deutschland zu sein. Die Menschen um mich herum sind sehr freundlich und hilfsbereit“, sagt die 53-Jährige, „andererseits herrscht in meiner Heimat Krieg – das schmerzt. Ich habe meinen Ehemann zehn Monate nicht gesehen und weiß nicht, was mit meinen Verwandten in den besetzten Gebieten ist.“
Ihren ukrainischen Schülern merkt sie die Belastung an: „Sie wollen nur nach Hause zu Papa, nichts anderes.“ Doch Prokopenko ist froh, dass ihr Enkelsohn den Krieg nicht miterleben muss. Für die Zukunft wünscht sie sich Frieden und den Sieg für ihr Land, „auch wenn ich jetzt noch kein Ende sehe.“

Der ehemalige ukrainische Tourismus- und Kultusminister und Botschafter in Weißrussland war zuletzt Direktor eines Museums in Kaniw. Seit Ende März lebt Lichovgi nun bei seiner Tochter und seinen Enkeln in Münnerstadt. „Am 24. Februar bin ich nachts vom Raketenlärm aufgewacht. Ich hatte schon ein Flugticket nach Deutschland für Mitte März gebucht. Fliegen ging dann natürlich nicht mehr. Aber wir wussten, dass der Krieg beginnt, das war keine Überraschung.“
Auch wenn er den Aufenthalt in Deutschland als vorübergehend sieht, möchte der Historiker und Kunstwissenschaftler viel über die deutsche Kultur, Geschichte und Tradition lernen und natürlich die deutsche Sprache.
„Wir sind die ersten Botschafter in Europa, bevor unser Land in die EU eintritt“, meint er scherzhaft. Das ist auch sein Wunsch für die Zukunft, dass die Ukraine Mitglied in der Europäischen Union und in der Nato wird, das würde seiner Meinung nach die größte Tragödie verhindern: „Die Ukraine war immer Teil Europas. Wir kehren sozusagen zurück nach Hause.“ Der 65-Jährige ist der EU und Deutschland sehr dankbar für die militärische Hilfe.