Aufgeregt, mit Zetteln in der Hand, stehen die Kinder im Sekretariat der Sinnberggrundschule in einer Reihe vor dem kleinen Tisch mit dem Mikrofon. Gleich gehen Jhana, Nicole, Lilli, Nico, Max und Anna „auf Sendung“ um über die Lautsprecheranlage der Schule den Schülerinnen und Schülern das nächste Weihnachträtsel zu stellen.
„Hallo Kinder, hier ist Radio Sinnberg mit der Klasse 4a“, leitet Klassenlehrerin Beatrice Rose-Ebel die fortlaufende Weihnachtsgeschichte ein. Dann liest jedes der Kinder einen Textabschnitt der Rätselreise von Helge Rentier vor, der durch alle Herren Länder tingelt, um von den dortigen Weihnachtsbräuchen zu berichten. Nur sind in den Erzählungen von Helge einige Ungereimtheiten versteckt, die die Grundschulkinder entdecken sollen.
Kinder führen Diskussionen
Nach der Durchsage und nach einigen Debatten untereinander stimmen sie anhand von Zetteln in Ja-Nein-Boxen ab, ob Helge geschwindelt hat oder nicht. „Da bekommt man vor allem bei den Kleinen nette Diskussionen mit, ob man zum Beispiel in Finnland wirklich nackig in die Sauna geht oder nicht“, schmunzelt Beatrice Rose-Ebel , die die Aktion mit ihrer vierten Klasse organisiert.
„Je jünger die Kinder sind, desto schwerer fällt es ihnen, einzuschätzen, ob das Gesagte wahr oder falsch ist. Doch dadurch wird die Medienkompetenz geschult und sie lernen, Dinge zu hinterfragen.“
Spaß beim Vortragen
Die Großen üben dabei Lesen und deutliches Vortragen und das vor einem Publikum von 400 Leuten: „Das macht mehr Spaß als einen Text nach dem anderen in der Klasse aus dem Buch vorzulesen“, so Rose-Ebel, „und die meisten reißen sich darum.“
Zum Beispiel die zehnjährige Jhana, die erst vor einem Jahr nach Deutschland gekommen ist. Sie bekommt einen kurzen Text mit einfachen Worten, den sie tadellos vorträgt. „Es macht Spaß, ich mag die witzige Geschichte und ich werde von den anderen Kindern gefragt, was Helge richtig oder falsch gesagt hat. Aber ich verrate es nicht“, berichtet sie strahlend.
Hört man ihr zu, kann man kaum glauben, dass sie bis vor einem Jahr kaum Schulunterricht hatte, da ihre Flucht aus dem Irak mehrere Jahre gedauert hat.
Einer weiteren Moderatorin von Radio Sinnberg, Lilli, macht das Vortragen ebenso Spaß: „Zu Hause lese ich auch gerne, da lese ich dann laut für mich vor.“
Studie: Große Unterschiede im Wortschatz
Doch dass Kinder im Allgemeinen immer weniger lesen, kann Grundschullehrerin Rose-Ebel nur bestätigen: „Leseproben, die ich vor 20 Jahre gestellt habe, kann ich heute nicht mehr verwenden. Es hapert an der Selbstständigkeit, einen Arbeitsauftrag selbst zu erlesen und selbst nachzudenken, anstatt gleich einen Erwachsenen zu fragen und es sich erklären zu lassen“, erläutert die Pädagogin. Das habe sich vor allem durch das Homeschooling in den letzten Jahren verstärkt.
Laut einer Studie des Institut für Schulentwicklungsforschung und der Uni Dortmund gibt es unter Viertklässlern in Deutschland große Unterschiede beim Wortschatz.
Deutlicher Vorsprung durch Lesen
Der Förderbedarf sei besonders groß bei Kindern, die selten oder nie ein Buch lesen, die nicht in Deutschland geboren sind und deren Eltern einen eher niedrigen Bildungsabschluss haben.
In der Erhebung gab die Hälfte der Grundschulkinder an, (fast) täglich Bücher zu lesen, während 22 Prozent nie oder maximal einmal im Monat ein Buch lesen. Schüler und Schülerinnen, die fast täglich Bücher lesen, zeigen dabei im Mittel einen deutlichen Vorsprung im Wortschatz gegenüber denjenigen, die seltener Bücher lesen.
„Lesen regt die Fantasie ganz anders an, als wenn die Kinder nur vor der Kiste sitzen“, ist Beatrice Rose-Ebel überzeugt. Oder vortragen vor der Lautsprecheranlage. Und wer weiß, vielleicht sogar mal im echten Radio – Lilli und Jhana können sich das durchaus vorstellen.