
Die Hauptverhandlung vor dem Bad Kissinger Amtsgericht taucht tief in die Geschichte eines familiären Dramas ein. Es geht um eine schwere Kindheit, eine desolate Familie, Einsamkeit und die verzweifelte Suche nach Liebe. Vor Gericht steht am Donnerstag ein 62-jähriger Frührentner aus dem Landkreis Bad Kissingen. "Unfallrentner", betont er. Das Gericht nimmt seinen Einwand zur Kenntnis.
Obsessive Beziehung
Was sich zwischen Herbst 2022 und dem Frühjahr des folgenden Jahres ereignet haben soll, erläutert die Verlesung der Anklageschrift. Er habe einige Male auf die damals 13- beziehungsweise 14-Jährige aufgepasst, wenn die Mutter nicht zuhause war. Und sie war wohl oft unterwegs, ließ ihre Tochter allein, schildert später eine Zeugin, deren Tochter mit der heute 15-Jährigen befreundet war. Zu ihrem weitaus jüngeren Freund, dem Sohn des Angeklagten, soll die 55-Jährige eine geradezu obsessive Beziehung gehabt haben.
"Sie lebt in ihrer eigenen Welt, ist von Männern besessen", sagt die Zeugin. Bei diesen Besuchen in der Wohnung des Angeklagten, der quasi als Opa-Ersatz angesehen wurde, soll es zu sexuellen Übergriffen gekommen sein. Er habe mehrmals ihre nackte Brust massiert, ihren Körper mit Massageöl eingerieben und dabei auch ihre Geschlechtsteile berührt. Ihm wird auch vorgeworfen, dem Mädchen Unterwäsche gekauft zu haben - Sport Tops oder BHs, das wird im Lauf der vierstündigen Verhandlung nie ganz klar.
"Auf Wunsch der Familie"
"Nein, so war das nicht", kontert der Angeklagte. Er streitet alle Vorwürfe ab, sei schließlich selbst Vater. Die mittlerweile gescheiterte Beziehung seines Sohnes mit der Mutter könne ein Grund für die Vorwürfe sein, spekuliert er. Schließlich sei er immer gegen diese Verbindung gewesen. Er habe den Kontakt zu dem Kind möglichst vermieden. Die Übernachtungen bei ihm seien auf ausdrücklichen Wunsch der Familie zustande gekommen.
Der Beschuldigte führt als Beispiel den Fasching vergangenen Jahres an. Die 55-Jährige und sein Sohn seien bereits stark alkoholisiert vom Umzug gekommen und wollten auf einer weiteren Veranstaltung feiern. Die Tochter sollte deshalb bei ihm bleiben. Sie habe aber immer allein im Schlafzimmer übernachtet, er selbst in einem anderen Raum. Die Vernehmungsakten der Polizei und Zeugenaussagen sagen aber etwas anderes. Sie sollte mit dem Angeklagten im großen Bett schlafen, das Zimmer sei dunkel gewesen. Sie habe das nicht gewollt und sich vor lauter Angst an den äußersten Rand der Matratze gekauert, wird die Jugendliche zitiert.
Öffentlichkeit ausgeschlossen
Aussage trifft auf Aussage. Das Gericht will Klarheit und ruft das Mädchen in den Zeugenstand. Ihr Anwalt fordert, dass der Angeklagte während der Befragung auf den Besucherplätzen sitzen soll, damit sie ihn während ihrer Aussage nicht "im Blickfeld haben muss". Die Richterin und die beiden Schöffen, ein Mann und eine Frau, lehnen ab. Dafür beschließt das Gericht, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden soll, wenn die 15-Jährige befragt wird. Ganze 100 Minuten nimmt sich das Gericht Zeit, um Licht in den Fall zu bringen. Diese Hoffnung erfüllt sich wohl nicht. Als die Besucher ihre Plätze wieder einnehmen, liegt eine unruhige Spannung in der Luft. Offenbar hat die Vernehmung mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert.
Die Halbschwester des Mädchens schildert dem Gericht, wie die Situation Anfang Mai vergangenen Jahres eskaliert. Die 15-Jährige schreibt ihr per SMS: "Kannst du mich bitte anrufen!" Die 26-Jährige ist alarmiert und fährt zum Wohnort der Freundin ihrer Schwester. Unter Tränen erzählt die Jugendliche, dass der Angeklagte "sie angefasst hat". Die Polizei wird eingeschaltet. Die Beamten der örtlichen Polizei informieren wegen der Schwere des Verdachts den Kriminaldauerdienst in Schweinfurt. Noch am selben Abend nimmt die Kripo die Aussage auf.
"Naiv und unreif"
Der als Zeuge geladene Beamte der Schweinfurter Kriminalpolizei schildert die Vernehmung des Mädchens. "Naiv und unreif" habe sie gewirkt, ihre Geschlechtsteile mit vulgären Ausdrücken bezeichnet. "Wohl das Vokabular des Elternhauses."
Die Befragung der Mutter stellt das Gericht auf eine harte Geduldsprobe. Unsicher, mit gesenktem Blick, sitzt sie auf dem Zeugenstuhl. Richterin und Staatsanwältin müssen mehrmals nachfragen, bevor sie eine genuschelte Antwort erhalten - wenn überhaupt. Sie kann sich angeblich an nichts erinnern, an gar nichts. Das lässt sich die Staatsanwältin nicht gefallen: "Ich werde sehr stutzig, wenn sich jemand an gar nichts erinnern kann." Und die Richterin fügt hinzu: "Auch eine Nichtaussage ist strafbar."
"Warum reagieren Sie nicht?"
Aber auch die Aussage der Frau ruft im Saal Kopfschütteln hervor. Sie habe den Angeklagten nur vom Hallo-Sagen gekannt. "Warum lassen Sie Ihre minderjährige Tochter dann bei einem Mann übernachten, den sie angeblich kaum kennen", fragt die Richterin, jetzt offensichtlich genervt. Dann wird die Juristin noch deutlicher: "Warum reagieren Sie nicht, wenn Ihre Tochter BHs geschenkt bekommt und sagt, dass sie angefasst wurde?" Schulterzucken, dann immer wieder: "Ich war geschockt, fix und fertig!"
Der Anwalt des Angeklagten bringt eine neue Wendung in den Fall: "Stimmt es, dass Sie Ihre Tochter als 'Vergewaltigungskind' bezeichnet haben?" "Ja, ich wurde vergewaltigt und habe mich bei ihr entschuldigt", gesteht die 55-Jährige.
Psychologisches Gutachten
Das Gericht hat genug gehört und verzichtet auf weitere Zeugen. Es beschließt, dass die Verhandlung ausgesetzt wird und ein sogenanntes aussagepsychologisches Gutachten erstellt werden soll. Ein solches Gutachten wird insbesondere dann eingeholt, wenn Zeugen an einer psychischen Krankheit leiden oder - wie im Fall der 15-Jährigen - noch besonders jung sind.
Wann der Prozess fortgesetzt wird, steht noch nicht fest.
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