"Wenn ich noch zehn Jahre jünger wär, könnt ich noch ein bisschen weiterarbeiten", sagt Christine Apel - und lacht. Sie ist jetzt 69 und arbeitete schon längst übers Rentenalter hinaus. Mit 65 Jahren musste sie bei der Post zunächst offiziell in Rente gehen.
Dann ließ sie sich aber wieder in Teilzeit anstellen. Daraus wurde schließlich erneut ein Ganztagsjob, erzählt die fröhliche Frau, während sie vor dem Haus Nummer 14 in der Dr.-Georg-Heim-Straße in den Kofferraum ihres gelben Postautos ab- und dann wieder auftaucht und der blonde Haarzopf dabei hin- und her schlenkert.
Im ersten Leben Kinderpflegerin
"Ah, da ist ja das Paket für Oliver Runkel! Den kenn ich schon, seit er klein war", erklärt die Postbotin und klemmt sich die rechteckige Pappbox unter den Arm. In ihrem ersten Leben, Anfang der 1970er Jahre, war sie nämlich Kinderpflegerin in der Kita des einstigen Kinderheims in der Rosenstraße, erzählt sie und schiebt die Tür des gelben Autos energisch zu.
Aus den kleinen Rangen von damals in der Kita wurden schließlich große Leute, und etliche davon wohnen heute noch im Rosenviertel, resümiert die Frau mit dem blau-gelben Käppi heiter. "Schön ist das, wenn ich die treffe, weil es immer was zu erzählen gibt."
Oliver Runkel ist der lebende Beweis, denn als er gleich darauf aus dem Haus kommt und sein Paket von Christine Apel in Empfang nimmt, muss er ihr unbedingt schnell erzählen, mit welchem interessanten Job sein Sohnemann sich fortan seine Brötchen verdienen will.
Im zweiten Leben Postbotin
Die Zustellerin nimmt sich natürlich kurz Zeit und hört zu, und das trotz Kälte und Nieselregen. Dann wird ein bisschen hin und her geflachst – und ab geht die "Christel von der Post", wie man sie gelegentlich nannte, frei nach dem gleichnamigen Heimatfilm aus den 1950er Jahren.
Zum Jahresende muss Christine Apel ihren Job als Postbotin aber nun endgültig an den Nagel hängen. Der Arbeitgeber will das so, gibt sie sich schmallippig. Punkt. "Ich hätte auch noch ein halbes Jahr angehängt, weil ich einfach so gern unter Leuten bin", sagt die agile Frau mit den hellwachen Augen.
Seit 30 Jahren arbeitete sie bei der Post, fing damals in der Abteilung Postfach an und trug später Briefe und Pakete in mehreren der 16 städtischen Zustellbezirke aus. Erst zu Fuß, dann mit dem Fahrrad und schließlich mit dem Auto. Seit gut zehn Jahren ist sie jetzt täglich in "ihrem" Bezirk Rosenviertel unterwegs gewesen, schildert die 69-Jährige ihren Werdegang.
Ganze Lebensgeschichten miterlebt
Wenn sie dann jeden Werktag mit ihrem Auto daher gebraust kam und aus den Tiefen des gelben Postautos ihre Schätze hervorsuchte, lugte in so manchem Haus oben bereits jemand erwartungsvoll hinter der Gardine hervor, erzählt Christine Apel aus ihrem Alltag. Sie lacht: "Und dann wurde natürlich gewunken."
Gelegentlich kam auch jemand an die Türe, um sie zu begrüßen. "Man redete halt mal ein Wort, weil man sich gut kennt", sagt die Zustellerin augenzwinkernd. "Von vielen Menschen hier kenne ich sozusagen die ganze Lebensgeschichte: Wann sie geheiratet haben, wann die Kinder geboren sind oder wie es ihnen jetzt im Alter geht." Und da ist es wieder, dieses heiter Lachen.
Eine Tüte Plätzchen zum Trost
Manchmal erfuhr die Postbotin dann auch etwas Trauriges, musste Trost spenden. "Und wenn jemand am Tiefpunkt war, musste ich was machen", erklärt sie mit einer kategorischen Handbewegung. "Denen hab ich dann am nächsten Tag auch mal eine Tüte selbst gebackener Plätzchen mitgebracht."
Vermutlich war Christine Apel die einzige Postbotin in der Stadt, die stets "Kinderpost" dabei hatte: Kleine Tütchen mit leckeren bunten Gummibärchen. "Da kam immer mal ein Kind zu mir hergelaufen und dann zückte ich meine Tütchen", sagt die Zustellerin, selbst Mutter von zwei Töchtern und einem Sohn. Gelegentlich bekam sie von den Kindern im Rosenviertel auch mal ein Gemälde zurück. "Die hab ich dann bei mir zu Hause aufgehängt."
Die Vierbeiner freuten sich auf Leckerli
Sofort erkannt wurde sie stets auch von den Vierbeinern in ihrem Zustellbezirk. Kein Wunder, denn selbst für die Hunde hatte die Postbotin stets Leckerli griffbereit. Und wehe, wenn sie mal an einem Tag keine Post in den Briefkasten von Herrchen oder Frauchen einzuwerfen hatte! "Da gibt’s einen Hund, der das Geräusch meines Autos schon kennt", erzählt sie und baut den Spannungsbogen auf: "Erst wartete er still. Wenn ich dann nicht zu seinem Haus hinlief, fing er wie wild an zu bellen."
Als Postbotin ist man manchmal auch Lebensretterin, erzählt Christine Apel und wird plötzlich ernst: Zum Beispiel fiel in der Gluthitze eines heißen Sommertags mal eine Frau plötzlich seitlich in die Hecke, als sie selbst gerade mit dem Auto wieder davonfuhr. "Ich hab’s noch im Rückspiegel gesehen. Also hab ich die Bremse reingedrückt, bin zurück und hab geholfen."
Das ist kein leichter Abschied
Ein andermal lag vor dem Parkwohnstift ein älterer Mann auf der Straße, dem offenbar schlecht geworden war. Bei Senioren passiert sowas halt mal, sagt Christine Apel. Da müsse man den Job mal Job sein lassen und eben Zeit investieren. "Da ist es wichtig, dass man Mensch bleibt und hilft."
Dass sie ab sofort keine Briefe und Päckchen mehr ausfährt und all diese netten Menschen in ihrem Zustellbezirk nicht mehr jeden Tag sieht, ist für die 69-Jährige schon schwer. Seit etlichen Tagen bekommt sie von "ihren Leuten" im Rosenviertel Abschiedsbriefe voller Empathie in die Hand gedrückt, soll kleine persönliche Geschenke "zur Erinnerung" mitnehmen und wird natürlich öfter angesprochen. "Viele bedauern, dass ich aufhöre", sagt Christine Apel.
"Du kommst doch nochmal vorbei?", wurde sie in diesen letzten Tagen wohl hundert Mal gefragt. Und mit belegter Stimme sagt Apel: "Es gab auch schon Tränen."