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Bad Kissingen
Kristjanisierung des Kissinger Sommers
Das Baltic Sea Philharmonic um Dirigent Kristjan Järvi bringt das Publikum zum exzessiven Tanzen und Singen. Dabei hatte das Konzert musikalische Schwächen.
Kristjan Järvi (mit Mikrofon) und sein Baltic Sea Philharmonic bringen den Regentenbau  zum Tanzen.       -  Kristjan Järvi (mit Mikrofon) und sein Baltic Sea Philharmonic bringen den Regentenbau  zum Tanzen.
Foto: Gerhild Ahnert | Kristjan Järvi (mit Mikrofon) und sein Baltic Sea Philharmonic bringen den Regentenbau zum Tanzen.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 19.07.2024 15:45 Uhr

Jetzt waren sie wieder da: der amerikanisch-estnische Pianist und Dirigent Kristjan Järvi und seine jungen Leute, das Baltic Sea Philharmonic. Beim ersten Mal vor Corona waren sie die große Sensation und Überraschung beim Kissinger Sommer, weil sie von einem Konzert ganz andere Vorstellungen hatten als alle anderen. Jetzt, bei ihrem zweiten Gastspiel im Regentenbau, war Überraschungsfaktor weitgehend weg, und es waren auch Veränderungen zu erkennen.

Dirigent wie ein Derwisch

Dieses Mal gab es keine Lightshow, sondern es waren nur ein paar gelbe Scheinwerfer zwischen die Musiker gestellt und auf das Publikum gerichtet. Dieses Mal spielte das ganze Orchester im Stehen – bis auf sechs Celli, die über ihre musikalische Funktion hinaus noch eine Ordnungsfunktion hatten: Sie grenzten einen Halbkreis von sechs bis acht Metern am vorderen Bühnenrand ab, in dem Kristjan Järvi sein Dirigat wie ein Derwisch mit einer Trommel hoch über dem Kopf tanzen konnte.

Es wirkte ein bisschen grotesk, vor allem, weil er immer so verschwörerisch-dämonisch schaute. Aber es erfüllte seinen Zweck: dass er seine Umgebung in eine Art Trance versetzt. Seine Musiker lassen das natürlich mit sich machen und zeigen das auch. Sie sind schließlich Profis, die wissen, was zu tun ist. Beim Publikum, dem das Wohlbenehmen bei klassischen Konzerten in die Gene gestanzt wurde, dauerte das länger. Und es ließ sich auch nur ein Teil der Leute – allerdings keineswegs nur junge – dazu hinreißen, von den Sitzen zu springen, die Arme in die Luft zu strecken und mitzusingen und zu tanzen.

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Järvi lässt Dämme brechen

Wobei sich das natürlich intensivierte, als Kristjan Järvi mit einem Sprung vom Podium ins Publikum die Phase des direkten Kontakts eintrommelte. Wer kann ruhig sitzen bleiben, wenn vor ihm plötzlich ein Mann mit einer Trommel landet und ihn zum Tanzen überzeugt? Damit waren die Dämme gebrochen. Fragt sich, ob das noch Programm war oder die Zugabenstrecke. Jetzt wollte niemand mehr aufhören, weil es ja immer noch schöner werden konnte. Schluss war, als die ersten jungen Musiker Ermüdungserscheinungen zeigten. Aber ganz Schluss auch eben nicht, denn die Feier ging im Schmuckhof weiter.

Vielversprechendes Programm

Ach so, ja, die Musik. Hat es sich gelohnt, auch wegen der Musik zu kommen? Das Programm war vielversprechend auf einen estnischen Schwerpunkt ausgerechnet. Auch wenn es einen Satz aus Sibelius 2. Sinfonie oder Strawinskys Feuervogel geben sollte. Ja und nein. Ja, weil man vor allem ganz viele wirklich gute junge Musiker auf einmal sehen und hören konnten, die in dem Orchester die Chance nutzen, die Zeit bis zum Einstieg in die Professionalität zu überbrücken. Und ja, weil man, bedingt durch einige volksmusikalische Quellen auch zwei Instrumente hörte, die in den Sinfonieorchestern eher nicht auftauchen: Maultrommel und Dudelsack, beide mit erstaunlichen klanglichen Möglichkeiten.

Willkürliche Reihenfolge

Aber ansonsten eher nein. Natürlich gab es ein Programm, in dem sämtliche Werke des Abends aufgelistet waren – ein paar davon waren beim letzten Konzert bereits zu hören. Das Problem war, dass die Reihenfolge vollkommen willkürlich anders war, und dass aus manchen Werken mehrfach zitiert wurde.

Vor allem aber waren die gesammelten Werke derart fugendicht zu einer Collage zusammengefügt worden, dass man überhaupt nicht erkennen konnte, was gerade gespielt wurde. War das jetzt Kristjan Järvis „Ascending Swans“ oder Maria Mutsos „Sireen“ oder Liis Jürgens „The Dream of Tabu-Tabu“ oder Arvo Pärts „Da pacem Domine“, ein Werk, das man in dieser Umgebung eigentlich nicht erwartet hätte. Ein paar bekannte Trittsteine gab es schon, etwa Zitate aus der 2. Sinfonie von Jean Sibelius oder aus Igor Strawinskys „Feuervogel“.

Dichte Liederwand

Aber wie es weiterging, war nicht festzustellen. Aus dem „Concertino Bianco“ für Klavier und Streichorchester von Georgs Pelcis war der 2. Satz: „Con venerazione“ angekündigt, und es stand ein Flügel bereit. Aber er wurde nur für zweimal vier Akkorde eingesetzt. So etwas wie interpretatorische Gestaltung war selten zu erkennen. Im Vordergrund stand das Gemeinschaftserlebnis. Wenn man hinterher gefragt worden wäre, was man eigentlich gehört hat: Was hätte man sagen sollen?

Gelegentlicher Klamauk

Man muss sich hoffentlich nicht sorgen, dass Järvis Konzertkonzept das Konzept der Zukunft wird. Gelegentlich so ein Klamauk schadet nichts, aber andernfalls müssten sich die Komponisten Sorgen machen.

Mehr Grund bereitet da Kristjan Järvi selbst, dem das Konzept die Möglichkeit gibt, sich in den Vordergrund zu manövrieren – was Dirigenten nicht nötig haben sollten. Das gibt ihm etwas Druidenhaftes, Sektenführerhaftes. Gut, die katholische Kirche hat auch als Sekte begonnen. Stehen wir vor einer neuen Welle der Kristjanisierung?

 

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Kommentare
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  • aleler18542506
    Lieber Herr Ahnert,

    wenn Sie die angekündigten Stücke in der Originalversion hören wollen, dann können Sie das ganz einfach bei Spotify hören.

    Gestern haben wir ein begeisterndes Konzert beigewohnt, das gerade durch seine musikalische und künstlerische Stärke und Interpretation das Publikum mitgerissen hat.

    Bitte mehr davon!

    P.S.: Meine Kinder waren bei diesem klassischen Konzert anwesend und wissen jetzt, wie toll klassische Musik sein kann
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