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Bad Kissingen
Bad Kissingen/Bayern: Mit dem Krebs alleine gelassen - Mann ringt mit Krankenkasse und erregt politisches Aufsehen
Laut den ersten Diagnosen sollte Richard Freibott schon längst tot sein. Dank alternativer Methoden konnte er dem Krebs Einhalt bieten. Im Streit, wer die Behandlung zu zahlen hat, hat sich nun auch die Politik eingeschaltet. Die Lage im Überblick - mit Kommentar.
Richard Freibott, wie das Mittel Lutetium 177 in Bad Berka injiziert bekommt. Foto: Zentralklinik Bad Berka/Freibott       -  Richard Freibott, wie das Mittel Lutetium 177 in Bad Berka injiziert bekommt. Foto: Zentralklinik Bad Berka/Freibott
| Richard Freibott, wie das Mittel Lutetium 177 in Bad Berka injiziert bekommt. Foto: Zentralklinik Bad Berka/Freibott
Benedikt Borst
 |  aktualisiert: 18.08.2022 12:30 Uhr

Geht es nach den ersten Prognosen, wäre Richard Freibott seit fünfeinhalb Jahren tot. Vor gut sechs Jahren wurde bei dem 67-Jährigen ein aggressiver und weit fortgeschrittener Prostatakrebs diagnostiziert. Die Ärzte gaben ihm damals nur noch wenige Monate. Heute ist sein Gesundheitszustand zwar weit davon entfernt, gut zu sein, aber immerhin ist er entgegen aller Prognosen noch am Leben. Seine Behandlung verträgt er gut, die Nebenwirkungen halten sich in Grenzen. "Die Mundtrockenheit ist das Schlimmste, was ich im Moment habe. Ansonsten geht es mir relativ gut", sagt Freibott. Damit das so bleibt, muss er sich regelmäßig in einer Spezialklinik behandeln lassen. "Sonst ist es zu spät." Da ist er sich sicher.

Eigentlich könnten Freibott und seine Lebensgefährtin Ulrike Dempsey froh über die Entwicklung sein. Dass sie es nicht sein können, hat damit zu tun, dass sie wirtschaftlich am Ende sind. Dazu kommt ein kräfteraubender Rechtsstreit, den sie sich mit seiner Krankenkasse, der AOK Bayern, liefern. Im Kern steht die Frage, wer die Kosten für die Krebsbehandlungen zu zahlen hat. Um die Kosten zu stemmen hat sich das Paar bereits verschuldet, die nötigen Therapien können sie aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren. Vor wenigen Wochen musste das Paar aus Steinach dann in einem von zwei Hauptverfahren eine bittere juristische Niederlage hinnehmen. Das belastet die Situation noch mehr. "Inzwischen war ich selbst in ärztlicher Behandlung. Nach dem Urteil dachte ich, mir fehlt jede Kraft", sagt Dempsey.

Standardtherapie im Endstadium

Zum Hintergrund: Die behandelnden Ärzte leiteten 2013 nach der Diagnose eine palliative Standardbehandlung ein. Freibott und Dempsey schildern, dass ihnen zu dieser Zeit ansonsten keine Behandlungsoptionen angeboten wurden. In ihrer Verzweiflung haben sie sich auf die Suche nach alternativen Therapien gemacht: 2015 unterzog sich Freibott zunächst in Bad Aibling einer Thermo-Chemotherapie. Ende 2015 überwiesen ihn die Ärzte dann ins thüringische Bad Berka. Die Zentralklinik ist international führend im Bereich der molekularen Radiotherapie. Hier wird er bis heute mit Lutetium 177 behandelt, einem neuen Medikament, das die Klinik für Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakrebs anbietet. Dass er sechs Jahre nach seiner Diagnose überhaupt noch am Leben ist, liegt für Freibott und Dempsey zweifelsfrei an den Behandlungen in Bad Aibling und Bad Berka.

Wie kam es zu dem Streit?

Sowohl die Thermo-Chemo, als auch die Therapie mit Lutetium 177 gehören nicht zum offiziellen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Das heißt: Eine Kasse zahlt dafür nur, wenn drei Kriterien zutreffen: Es muss sich um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung handeln, die alternative Behandlung muss sich spürbar positiv auswirken und die Möglichkeiten der anerkannten Schulmedizin müssen ausgeschöpft sein. Die AOK weigert sich, zu zahlen. Sie stützt sich auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, wonach noch schulmedizinische Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen.

Im Falle der Thermo-Chemo hatte das Landessozialgericht Schweinfurt der AOK in zweiter Instanz Recht gegeben. Eine Berufung wurde nicht zugelassen. Dempsey und Freibott kündigten dennoch an, sich juristisch zu wehren, um mit dem Fall vor die nächst höhere Instanz zu kommen - das Bundessozialgericht (BSG). Auch wenn es menschlich bitter ist - juristisch dürften die Chancen auf Erfolg nur gering sein. Der Meinung ist auch ihr Rechtsbeistand Jörg Fritsch vom VdK Würzburg. Dem Gericht müssten Verfahrensfehler oder Verstöße gegen die aktuelle Rechtssprechung des BSG nachgewiesen werden. "Das sehe ich nicht", sagt er.

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Anders ist die Situation bei der Therapie mit Lutetium 177. Hier steht das Hauptverfahren noch aus. In einem Eilverfahren im Frühjahr 2017 hat das Sozialgericht Würzburg aber entschieden, dass die AOK vorläufig die Kosten für zwei Behandlungen zu zahlen hat. Beim Hauptverfahren warten die beteiligten Seiten auf ein Gutachten, das das Landessozialgericht angefordert hat. "Es wurde ein Gutachten in Auftrag gegeben, ob Lutetium die letzte mögliche Behandlungsoption ist", fasst Fritsch zusammen. Auf diesem Gutachten ruhen die Hoffnungen der Kläger. Für den Fall, das Freibott vor dem Prozess wieder eine Behandlung braucht, wolle man erneut eine vorläufige Kostenübernahme erwirken.

Lutetium 177 hat einen anderen medizinischen und rechtlichen Status als die Thermo-Chemo. Laut Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses ist das Medikament seit Oktober 2017 von der Nutzenbewertung freigestellt. Das heißt: "Man hat sich bewegt. Man ist auf dem Weg, Lutetium zu einer Regelleistung zu machen", erklärt die Bundestagsabgeordnete und Juristin Manuela Rottmann (Grüne) aus Hammelburg. Sowohl sie, als auch andere Fachleute aus dem Gesundheitswesen argumentieren, dass die Krankenkassen damit grundsätzlich rechtlichen Spielraum haben, die Behandlung für austherapierte Patienten zu bezahlen.

Dorothee Bär schaltet sich ein

Die Auseinandersetzung ist zu einem Politikum geworden. Sowohl Rottmann, als auch Dorothee Bär (CSU), Bundestagsabgeordnete für Bad Kissingen sowie Staatsministerin im Bundeskanzleramt, haben sich an die AOK gewendet und versuchen, zu vermitteln.

Bärs Meinung nach ist in der Phase nach der Diagnose viel schief gelaufen. Freibott hätte intensiv beraten werden müssen, wurde stattdessen aber allein gelassen. Sie sei froh, dass das Paar sich auf eigene Faust gekümmert hat. Aber: "Dass Krankenkassen ihre Entscheidungen auf Grundlage der erstellten Gutachten treffen ist rechtlich korrekt und nachvollziehbar", sagt Bär. Sie hoffe, dass die Ausnahmeregelung bei der Lutetium-Behandlung Anwendung findet. "Jedoch müsste hierzu das Gutachten angepasst werden."

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Rottmann hält den Fall für sehr dringend. Es sei für Betroffene schwer, die drei Ausnahmekriterien für sich durchzusetzen. Vielen fehle schlicht die Kraft, das Geld oder auch die Zeit sich durch die Instanzen zu klagen. "Am Ende kann es sein, dass ich Recht bekomme, aber nichts mehr davon habe", sagt Rottmann. Auch für die Verantwortlichen bei den Kassen sei es nicht angenehm, solche Fälle zu entscheiden, weil sie in Regress genommen werden können, wenn sie leichtfertig mit den Geldern der Versichertengemeinschaft umgehen. Rottmann schlägt deshalb vor, dass künftig eine Härtefallkommission darüber entscheiden solle, ob eine Kasse die Behandlung zahlen muss.

Kommentar: Das Gesundheitssystem muss sich rechtfertigen

Der Fall von Richard Freibott hat mehrere Seiten: Auf den ersten Blick fallen die menschliche und die juristische auf. Auf menschlicher Seite steht da ein sterbenskranker Mann mit seiner Familie. Sie werden nach einer für sie alles erschütternden Diagnose alleingelassen, stehen inzwischen wirtschaftlich vor dem Nichts und sind dann noch dazu gezwungen ist, sich einen jahrelangen Rechtsstreit mit der Krankenkasse zu liefern - wie kann das sein, wie darf das sein, fragt man sich da.

Wie der Fall juristisch zu bewerten ist, ob die Kasse wirklich sagen darf: Ich zahle nicht - das ist Sache der Sozialgerichte.

Dann ist da noch eine dritte Seite: eine, die mit Demokratie und Transparenz zu tun hat. Die AOK Bayern muss sich vorwerfen lassen, dass sie sich und ihr Verhalten nicht ausreichend erklärt. Außer den Argumenten, die sie auch vor Gericht anführt, hat sie bislang nicht viel öffentlich zu dem Fall gesagt. Die AOK ist in der Region die größte Krankenkasse. Sie verwaltet öffentliche Gelder in Millionenhöhe. Damit sind sie und ihr Umgang mit Patienten von großem öffentlichen Interesse. Sie steht in der Pflicht, sich gegenüber den Bürgern und gegenüber den Versicherten zu rechtfertigen. Unterlässt sie das, schadet sie sich und auch dem Gesundheitswesen. Solche Fälle verunsichern Versicherte und Patienten: "Was passiert mit mir, wenn ich einmal in so eine Lage komme? Ich habe immer meine Beiträge ins System gezahlt. Wieso soll ich das überhaupt noch tun, wenn sie mich dann hängenlassen, sobald es ernst wird? Denen geht es doch sowieso nur darum, Geld zu verdienen." Das Problem ist: Wenn sich eine Seite von dem demokratischen Miteinander abkoppelt, verspielt sie Vertrauen. Und das ist leichter verloren, als wieder aufgebaut.

Im deutschen Gesundheitswesen gibt es eine starke Selbstverwaltung, mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss, den Krankenkassen, den Kassenärztlichen Vereinigungen und so weiter. Das ist an sich weder gut noch schlecht. Bedenklich finde ich, dass sich die Politik zu gern aus dieser Selbstverwaltung heraushält. Wenn politische Entscheider gefragt werden: Warum ist zu wenig Pflegepersonal da, warum soll die nächste Geburtsklinik geschlossen werden, warum gilt eine Region mit Ärzten als überversorgt gilt, obwohl die Praxen überquellen? Die Antwort ist dann oft, dass das ja alles ungeheuer kompliziert sei. Fallpauschalen, Quoten und so weiter. Aber keine Sorge: Dafür gibt es die Experten in der Selbstverwaltung. Die machen das schon.

Schön und gut. Was aber ist, wenn die Politik die Verantwortung von sich schiebt und die Experten dann auch noch meinen, sich nicht rechtfertigen zu müssen? Mit Demokratie hat das jedenfalls nicht mehr viel zu tun.

Lesen Sie zusätzlich auf inFranken.de: Wie Mirco aus Heroldsbach den Krebs besiegte

 
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