Erst dachte Ismet Ersindigil, jemand ziehe ihr die Bettdecke weg. Dann sprang die 76-Jährige – ahnend, was los war – auf und flüchtete aus dem Haus, in die kalte Nacht. Es war am Montagmorgen, kurz nach 2 Uhr mitteleuropäischer Zeit, als im türkisch-syrischen Grenzgebiet die Erde zweimal bebte – mit mehr als 20.000 Toten, Chaos, Leid und Trauer. Und türkisch- und syrischstämmigen Angehörigen im Landkreis Bad Kissingen, die sich sorgen.
„Meine Mutter hat Glück gehabt“, sagt Funda Ersindigil, geboren im nordrhein-westfälischen Remscheid und seit 2020 in Bad Kissingen lebend. Die 51-Jährige hatte zunächst gar nichts von den Erdstößen mitbekommen, erfuhr erst durch einen Anruf ihrer Mutter davon.
Ismet Ersindigil hatte im Haus der Familie in einem Außenbezirk der Drei-Millionen-Metropole Adana übernachtet. Sie hörte Schreie der Nachbarn in der Nacht.
Doch zum einen wurde ihr Stadtteil nicht so stark vom Erdbeben erschüttert wie die City, wo viele Hochhäuser zusammenstürzten. Medien sprechen von 1.000 Toten, Zahl steigend.
Zum anderen besteht das Gebäude aus nur zwei Stockwerken. Die Gefahr, wie in der Innenstadt oder dem noch stärker zerstörten Hatay unter Trümmern begraben zu werden, war geringer. Bis auf einige Risse blieb das Haus heil. Trotzdem stellte das Beben ein einschneidendes Erlebnis dar – für die 76-Jährige inmitten der Katastrophe und für ihre Tochter Tausende Kilometer entfernt. Was beide später erfuhren: Im erweiterten Familienkreis sind Todesopfer zu beklagen: der Neffe einer Cousine von Funda Ersindigil, dazu ein Cousin eines Onkels. Auch Nachbarn haben Angehörige verloren.
Mutter im Schockzustand
„Jeder ist im Schockzustand; jeder versucht, Leute irgendwo unterzubringen“, schildert die 51-Jährige die Lage vor Ort. Mit ihrer Mutter telefoniert sie täglich. Die Angst treibt sie um, dass ihr oder anderen engen Angehörigen durch Nachbeben Schlimmes passieren könnte.
Dennoch will die Mutter vorerst in der Türkei bleiben. Sie wirke zu schockiert, um sich aufzumachen nach Deutschland, wo sie eigentlich die meiste Zeit lebt. Straßen und der Flughafen von Adana seien ebenfalls zerstört. Vielleicht fährt ein Sohn demnächst hin und holt sie ab.
Die Not ist groß im Krisengebiet, hat Funda Ersindigil erfahren. Ein Geistlicher habe am Mittwoch 50 Beerdigungen durchgeführt. Alles Menschen, die in den Stunden zuvor tot geborgen wurden.
Durch ihre Rente könne sich die Mutter immerhin selbst versorgen und habe ein Dach über dem Kopf, schildert die Tochter. Was gut klappe, sei das Netzwerk der Betroffenen untereinander. Manche würden nicht benötigte Räume obdachlos Gewordenen überlassen.
Was selten ankommt, ist Unterstützung von außen. Auch aus Deutschland haben sich Transporte mit Hilfsgütern auf den Weg in die Türkei gemacht; Ersindigil weiß von einem aus Schweinfurt.
Dass die Hilfe schnell und effektiv ankommt, sei keineswegs sicher, sagt die Bad Kissingerin. In der Türkei habe man die Warnungen von Experten vor Erdstößen nicht so ernst genommen; wenige Gebäude seien erdbebensicher errichtet. In Adana habe es zuletzt vor rund 30 Jahren gewackelt, aber nicht so schlimm wie jetzt. Sie habe eher damit gerechnet, dass es – wie 1999 – Istanbul treffe.
Im benachbarten Syrien scheint die Situation noch schlimmer zu sein. Zumal die Erdbeben durch den Bürgerkrieg verheertes und von Rebellen gehaltenes Gebiet getroffen hat.
Susan Abdulrahman aus Bad Kissingen weiß von Schwiegereltern eines Bekannten, deren Haus eingestürzt ist. „Kochen, essen und duschen können sie bei Nachbarn, deren vier Wände stehen geblieben sind. Übernachten müssen sie draußen. Da ist es zu kalt zum Schlafen.“
Abdulrahmans Vater stammt aus Syrien, ebenfalls ihr Ex-Mann. 2015 – während der großen Flüchtlingswelle – arbeitete sie als Dolmetscherin fürs Landratsamt. Erdbebenopfer muss die Bad Kissingerin nicht beklagen, weil ihre Verwandtschaft weiter südlich an der Mittelmeerküste wohnt.
Von 1993 bis 2000 lebte Susan Abdulrahman selbst in Syrien. 1995 brachte ein leichterer Erdstoß den Schrank in ihrer Wohnung zum wackeln. Sie, ihre Mutter und die Schwester flohen aus dem Haus. Insofern kann sie gut nachvollziehen, was derzeit im Nordwesten Syriens passiere.
Belastende Machtlosigkeit
Wobei die Verhältnisse mit denen in der Türkei nicht zu vergleichen seien. Die Menschen hätten kein Licht, keinen Strom, keine Hilfe von außen (nur ein Grenzübergang zur Türkei war diese Woche offen). Im Nachbarland gebe es wenigstens Zelte zum Übernachten und das ein oder andere Bergungsgerät. „In Syrien graben die Menschen mit bloßen Händen nach Verschütteten.“ Krankenwagen dürften schon zu „normalen“ Zeiten nur zu Notfällen wie Geburtsvorgang oder Herzinfarkt ausrücken. Abdulrahman fragt sich, warum die Menschen außer Assad-Regime und Bürgerkrieg noch eine Naturkatastrophe ertragen müssen. „Das ist das Letzte, was es noch gebraucht hätte. Diese Machtlosigkeit ist furchtbar. Man ist 4000 Kilometer weg und es trifft einen dennoch.“ (st)