Seit zwei Jahren ist Jochen Vogel ( CSU ) Bürgermeister von Bad Brückenau . Die Bürgerinnen und Bürger haben sich für einen jungen, fitten Mann entschieden, einen, der - wie im Herbst geschehen - die Ostwand des Watzmanns erklimmt oder auch bei längsten Sitzungen keine Anzeichen von Müdigkeit zeigt. Seit März ist das anders. Am 10. 3. erhielt er die Diagnose Covid. Und er hatte Pech - die Infektion baute sich zum gefürchteten Long Covid aus. Ein Gespräch mit Jochen Vogel über Vergesslichkeit, Angst , Verantwortung und die für ihn schlimmsten Sache - die Geduld.
Hallo Herr Vogel, wie geht es Ihnen heute?
Es ist das zweite Telefonat heute für mich. Nach dem ersten über etwa eine Stunde war ich platt, aber jetzt geht es wieder.
Platt - nur nach einem Gespräch?
Ja. Aber nicht nur das Reden strengt an. Vor drei Wochen besuchten meine Frau und ich meine Schwiegereltern. Über den ebenen Radweg sind es fünf Kilometer. Zwei Stunden hab ich veranschlagt. Nach etwa der Hälfte musste ich mich in ein Bushäuschen setzen und meine Frau bitten, das Auto zu holen, um mich abzuholen.
Für jemanden, der noch im Herbst den Watzmann bestiegen hat, ist das doch unvorstellbar.
Ja, und es ist eine schwer zu akzeptierende Realität. Ich habe mich nach den zwei Kilometern gefühlt wie nach einer schnellen Tour mit schwerem Gepäck von Motten zum Kreuzberg und wieder zurück.
Seit zweieinhalb Monaten leben sie vorwiegend zuhause, Ihr Radius ist - wie Sie sagen - sehr klein geworden: Bett, Couch, Balkon.
Aber ich sehe Besserung: Die bleierne Müdigkeit ist gewichen. Statt tagsüber zwei bis drei Stunden Tiefschlaf döse ich jetzt nur noch zwischen einer halben und einer Stunde.
Ich habe Sie in der Öffentlichkeit nie ohne Maske gesehen, Sie gehören nicht zu den Menschen, die sich risikoreich Covid ausgesetzt haben.
Stimmt. Und ich habe gedacht, ich kriege es nicht mehr, nachdem um mich herum Menschen, die auf den gleichen Terminen waren wie ich, ein positives Testergebnis hatten, ich aber immer negativ war. ,Das Virus hat auch seinen Stolz', witzelte ich - bis ich am 10.3. positiv war. Zusammen mit rund sieben anderen, die es sich auf dem gleichen Termin geholt haben.
Anfangs sah es so aus, als ob Sie es wegstecken würden.
Vielleicht, ja. Aber ich wollte nach dem Negativ-Test unbedingt wieder arbeiten.
Wie war diese Woche, kurz nach dem Ende der Infektion, als Sie versuchten zu arbeiten?
Ich habe es probiert und bin auf die Nase gefallen. Drei Tage ging es bis jeweils kurz nach dem Mittag, danach musste ich heim und mich hinlegen. Nach etwa vier Wochen daheim hab ich einen zweiten Versuch gewagt. Zwei Stunden am Schreibtisch und ich war wie erschossen. Am Wochenende war eine Feuerwehrsitzung, dann der Florianstag, sonntags die Motorradsegnung, am Montag eine Besprechung, Dienstag ein halber Tag am Schreibtisch, Mittwochvormittag die Eröffnung einer Ausstellung, eine Besprechung und nachmittags Personalversammlung. Noch am Donnerstagmorgen dachte ich: Irgendwie geht das schon - doch nach nur zwei Stunden war es, als ob mir jemand den Stecker gezogen hatte. Nach dieser Test-Arbeitsphase habe ich drei Tage gebraucht, in denen ich nur schlief, nur gelegen habe.
Sie gelten nicht als Weichei.
Ich dachte immer: Wenn ich etwas wirklich will, dann schaffe ich das auch. Aber in diesem Fall hat mein Körper das Sagen, kein Wille, kein Hirn - und mein Körper sagt mir etwas ganz anderes. Das ist für mich etwas zutiefst Frustrierendes.
Viele Mediziner warnen ja davor, sich bei Long Covid nicht zu überschätzen.
Klar, meine Ärzte, mein Heilpraktiker machten das auch. Wenn man denkt: Hey, jetzt geht es aufwärts und probiert zu viel - dann schlägt es zurück. Die Zellen müssen sich erholen und die brauchen sehr viel Zeit. Ich hoffe jetzt auf den Pfingstsonntag und den Heiligen Geist, vielleicht kann der ja helfen - nur weiß ich nicht, wann.
Humor haben Sie noch...
....ja, den nimmt mir Covid nicht, auch wenn es eine ernste Angelegenheit ist. Es ist beängstigend, wenn dir dein Hausarzt mehrfach eintrichtert: Schon dich. Wenn du das nicht tust, kann dein Herzmuskel darunter leiden.
Macht Ihnen das Angst ?
Ja. Ich bin kein ängstlicher Mensch, und ich weiß, dass Angst etwas Gutes ist, da sie für unser Überleben wichtig ist. Wenn ich am Berg Angst habe, bleibe ich vorsichtig. In dieser Situation verspüre ich auch Angst . Aber schlimmer ist etwas anders.
Was denn?
Die Geduld aufzubringen und zu akzeptieren, dass ich momentan überhaupt nicht leistungsfähig bin. Zu akzeptieren, dass meine Frau gerade unser Leben regeln muss - samt dreier Kinder, samt Covid-Infektion bei zweien davon. Bereit zu akzeptieren, dass ich meinen Beruf derzeit nur eingeschränkt ausüben kann.
Wie müssen wir uns das vorstellen?
Meine beiden tollen Stellvertreter, 2. Bürgermeister Jürgen Pfister und 3. Bürgermeister Dieter Seban, die einen grandiosen Job machen, unterrichten mich über die wirklich wichtigen Dinge in der Stadt. Da bin ich eingebunden. Meine Verwaltung ,steckt' mir auch das ein oder andere. Vieles läuft in den Abteilungen autark, es ist sehr schön zu sehen, wie gut das klappt. Ich bin meinen Stellvertretern sehr dankbar, auch dafür, dass wir drei harmonieren.
Wie findet es Ihr Arzt, dass Sie sich mit Ihrem Job beschäftigen?
Naja, der schüttelt den Kopf. Er sagt, unter Ausruhen verstehe er etwas anderes. Aber soll ich denn Daumendrehen bis zur Arthrose?
Aber wie Sie vorhin im Gespräch sagten: Der nächste Einschlag ist vielleicht irreparabel.
Ich weiß. Ich muss mir das auch immer wieder selbst vorhalten: Auch das, was ich gerne tue, strengt mich sehr an. Wie lesen! Am Anfang konnte ich nicht mal den Inhalt einer Seite eines Buchs behalten. Jetzt habe ich am Wochenende bemerkt: Hey, beim neuen Buch klappt es schon viel besser.
Welches ist es denn?
"Du musst kein Held sein: Spitzenpolitiker, Marathonläufer - aber nicht unverwundbar" von Peter Tauber .
Na, das passt ja. Tauber änderte sein Leben, seine Einstellung, nachdem er nur durch eine Notoperation gerettet werden konnte.
Ein Zitat aus dem Klappentext hat es mir besonders angetan: ,Darf man in einer Gesellschaft, in der die starken den Ton angeben, überhaupt Schwäche zeigen? Ja, man darf und muss auch Schwächen zeigen, denn sie gehören zum Leben dazu.
Vielen Dank, dass Sie hier öffentlich von der "Schwäche" Krankheit berichten.
Gern. Ich bin von Anfang an offen mit der Diagnose umgegangen.
Sie hatten einen hochfunktionalen Körper, dank diverser Sportarten. Jetzt muss dieser Körper durch schon zweieinhalb Monate kompletter Erschöpfung.
Ja, ich muss mir eingestehen, dass der Körper eine schwache Phase hat. Wenn es wieder geht, taste ich mich wieder heran. Ich bin froh, dass mir wenigstens das Essen schmeckt.
Was hat das Virus mit Ihrem Gedächtnis gemacht? Man sagt ja, dass die Menschen eine Phase der Vergesslichkeit durchlaufen.
Ohja. Ich fragte meine Frau, was wir am Sonntag essen. Sie war sehr verwundert - ich hatte vorgeschlagen, dass ich grille. Oder ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mein Jüngster mit dem Opa telefoniert hat - obwohl ich danebenstand. So hätte ich in dieser Phase auch nichts im Rathaus verloren gehabt. Einmal hätte ich mich vielleicht mit Adenauers Zitat rausreden können, was mich mein Geschwätz von gestern interessiere. Aber zweimal wäre ich damit nicht durchgekommen. Zur Beruhigung: Auch mein Hirn erholt sie gerade wieder.
Ängstigte Sie diese Phase?
Ich habe es innen schnell weggedrückt - ich wollte darüber nicht nachgrübeln.
Was Ihnen passiert ist, ist nichts anderes als eine Katastrophe.
...schon. Aber mit einem großen Unterschied zu Menschen, die eine aussichtslose Krebsdiagnose erhalten haben. Bei mir wird es wieder.
Gibt es eine Prognose, wann Sie wieder voll arbeiten können?
Noch nicht. Nur, dass es noch dauert. Und dass ich Geduld haben muss.
Blicken Sie jetzt anders aufs Leben?
Ja. Ich sehe und freue mich noch mehr über kleine Dinge, die ich früher nicht wahrgenommen habe. Ein farbiger Sonnenuntergang beispielsweise oder schnell ziehende Gewitterwolken. Die Einschränkungen bringen einen andern Fokus. Das hat auch was...
Was hilft Ihnen?
Momentan sind es viele Vitamine, Eiweiß und Mineralien, die ich zu mir nehme. Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass es mir besser geht. Aber momentan ist es auch noch so, dass mir der Stuhl hilft, der im Hof steht.
Wie das?
Auf den kann ich mich setzen, wenn ich nach drei ein paar Minuten Hof-Kehren eine Pause brauche. Einen Vorteil hat die Krankheit: Ich weiß, wie ich mich mit 85 fühlen werde.