Seit sieben Jahren beschäftigt sich der frühere Gymnasiallehrer Dirk Hönerlage (66) als Initiator und Sprecher des Arbeitskreises Stolpersteine in Bad Brückenau mit dem tragischen Schicksal jüdischer Mitbürger in Zeiten des NS-Regimes.
Ergebnisse eigener Archiv-Recherchen
Die von ihm gesammelten Informationen von Zeitgenossen oder deren Nachkommen über jene dunklen Jahre der Stadt sowie Ergebnisse eigener Archiv-Recherchen hat er nun im Roman „Unter Dampf“ verarbeitet, der kürzlich im Azur Verlag erschien.
Das Buch liest sich einerseits als ein Stück Brückenauer Heimatgeschichte. Andererseits versucht der Autor , eine Erklärung zu finden, warum so viele Menschen zu Mitläufern der Nazis wurden und deshalb enge Freundschaften zerbrachen.
Ereignisse in Bad Brückenau sind alle belegt
„Die in der Handlung genannten Ereignisse in Bad Brückenau sind alle belegt“, versichert Hönerlage im Gespräch mit dieser Redaktion. Manches weist er durch Abdruck von Fotos und Dokumenten im Buch nach.
Doch so real, wie selbst kleinste Begebenheiten sich in Bad Brückenau oder Umgebung zugetragen haben, ist die im Buch erzählte Geschichte nicht, betont der Autor ausdrücklich.
Fiktiv, aber nach wahren Begebenheiten
„Es ist ein fiktiver Roman, aber nach wahren Begebenheiten.“
Erzählt wird die Geschichte Brückenaus aus Sicht des 1923 geborenen Richard, Sohn von Emma und Gerhard Suttner, die sich mit einer kleinen Pension in Wernarz selbständig gemacht haben - sieben Zimmer, fließend Wasser, auf zwei Etagen mit Bad und Toilette auf dem Flur.
Die Mutter entstammt einer holsteinischen Pastorenfamilie, der Vater kommt aus Hessen. Die Familie ist evangelisch .
Parallelen zwischen Autor und Protagonist
Wie sein Protagonist stammt auch Autor Hönerlage aus Norddeutschland, ist evangelisch , wuchs in Aschaffenburg auf und kam erst 1987 als 30-Jähriger in die Rhön.
Da liegt die Frage nahe, wie viel von ihm selbst als „Neigschmeggder“ in seiner Hauptfigur steckt. „Ich bin nicht Richard“, betont der Autor nachdrücklich.
Vorbehalte Einheimischer gegenüber Protestanten
Allerdings hat er in Erzählungen über frühere Zeit von Vorbehalten Einheimischer gegenüber Protestanten erfahren: So seien damals evangelische Mitbewohner im katholischen Brückenau – auch dies kommt im Roman vor – durchaus als „halbe Heiden“ benannt oder später sogar als „halbe Juden “ beschimpft worden.
In dieser Atmosphäre wächst Richard in den 1920er und 1930er Jahren auf. Er muss lernen, mit den Erwartungen seitens der Familie, der Schule und Kleinstadt umzugehen. Deshalb versucht er verzweifelt, sich anzupassen.
Niemals wirklich dazugehören
„Doch als dann die Erste Heilige Kommunion seiner Klassenkameraden anstand, wurde ihm messerscharf klar, dass er niemals wirklich dazugehören würde, dass all die Anpassung, so wahrhaftig sie auch von ihm betrieben worden war, ins Leere lief.“
In dieser Phase wird ihm Ferdinand Goldkrantz, ein Sohn aus alteingesessener jüdischer Familie, zu einem echten Freund.
Seine Eltern betreiben einen Gemischtwarenhandel mit allem, was man so braucht. So versorgen sich Richards Eltern bei Goldkrantz mit Material zur Renovierung ihrer Pension.
Brückenauer Ludwig Goldschmidt ein Denkmal setzen
„In memoriam Ludwig Goldschmidt“ ist auf der ersten Seite des Romans „Unter Dampf“ zu lesen.
„Mit der Figur des Ferdinand wollte ich dem 1923 geborenen Brückenauer Ludwig Goldschmidt ein Denkmal setzen, der 1941 von den Nazis ermordet wurde und dessen Lebensgeschichte mich bei unseren Stolperstein-Recherchen sehr berührt hat.“
NS-Ideologie infizierte Brückenaus Einwohnerschaft fast unmerklich
Hönerlage zeigt im Roman – ohne zu urteilen oder zu verurteilen, sondern ausgewogen und sachlich –, dass die NS-Ideologie nicht plötzlich über Bad Brückenau einfiel, sondern die Einwohnerschaft fast unmerklich infizierte.
„Die Wahlen waren gelaufen und die Nationalsozialisten gewannen immens dazu. An der hohen Zustimmung in Brückenau sollten sich andere Orte wie Kissingen oder Neustadt mal ein Beispiel nehmen, hieß es.“
Freundschaft wird auf die Probe gestellt
Auch Richard lässt sich begeistert mitziehen: „Mit würdevoller Bedachtsamkeit nahm Richard sodann Urkunde und HJ-Ausweis entgegen, streifte sich die Armbinde mit dem Hakenkreuz über, prüfte Sitz von Halstuch, Schultergurt und Koppelschloss, ….“
Anfangs versucht er seine enge Freundschaft mit einem Juden noch zu rechtfertigen: „Gleichwohl fragte er sich, was das pauschale Gerede über die Juden sollte. Alle in einen Topf werfen.
Geradezu lächerlich. Mochte ja sein, dass einige von ihnen geldgierige Schmarotzer waren. Aber doch nicht alle.“ Doch bald wird diese Freundschaft auf die Probe gestellt:
Verräter dieser Freundschaft
„'Die Juden sind unser Unglück'. Natürlich, auf Ferdinand traf das nicht zu. Da war sich Richard ziemlich sicher. Ob das jedoch die anderen ebenfalls wüssten?“
Vorsichtshalber entfernt sich Richard mehr und mehr von Ferdinand und wird zum Verräter dieser Freundschaft.
In diesen unruhigen Jahren bleibt Richard nur die Eisenbahn – ein Hobby, das er mit seinem Autor teilt – als Zeichen des faszinierenden Fortschritts in der Region und als Symbol berechenbarer Zuverlässigkeit.
Eisenbahn als Symbol genutzt
Hönerlage nutzt die Eisenbahn im Text auch als Symbol für Richards Bemühen, bei seinen Mitmenschen „gut anzukommen“ und seiner Lebensreise ein Ziel zu geben.
„Mir geht es im Buch darum, die Leser zu motivieren, sich einerseits mit der Geschichte des 'Dritten Reichs' generell und speziell in Bad Brückenau auseinanderzusetzen, sich andererseits mit der eigenen Person und ihrem individuellen Stand in der Welt selbstkritisch zu beschäftigen“, erzählt der Autor . „Wann braucht es Mut, auch Nein zu sagen?“
Das Buch "Unter Dampf" von Dirk Hönerlage
Dirk Hönerlage: „Unter Dampf“, Azur Verlag (Edition H. Schroeder), Taschenbuch, 178 Seiten, Preis: 14,90 Euro, ISBN978-3948131135; das Buch ist in der Buchhandlung Karl Nikolaus (Ludwigstraße 48, Bad Brückenau) vorrätig oder in jedem Buchfachgeschäft zu bestellen.
Autorenlesung "Unter Dampf"
Veranstaltung des Kunst- und Kulturvereins Bad Brückenau, Sonntag, 12. November, 17 Uhr, Ernst-Putz-Straße 9, 97769 Bad Brückenau, Eintritt fünf Euro, Schüler/Studenten drei Euro.
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