
"Ich habe meinem Vater immer ein Würstchen verwahrt." Anni Buchheim erinnert sich. Sie erinnert sich an vieles aus ihren 104 Jahren Lebenszeit. Das Würstchen, das war wegen des Hungers, den die Familie während des Ersten Weltkriegs litt. Am 4. Januar 1915 kam sie zur Welt. Ihre Mutter starb bald danach, der Vater war Soldat. Es war die Großmutter, die die drei Kinder großzog. "Eine ganz liebe Frau", sagt Buchheim mehrmals.
Schnell ist sie mit den Gedanken in ihrer Kindheit, schnell in ihrer Heimatstadt Köln. "Das war so eine schlechte Zeit, die 1920er Jahre. Das war ganz schlimm. Der Vater war arbeitslos. Er bekam mit drei Kindern 18 Mark in der Woche von der Stadt. Davon mussten wir leben. Aber meine Oma hat das alles gedeichselt. Sie hat möblierte Zimmer vermietet, noch als alte Frau!"
Viele alte Menschen erzählen gern von früher. "Die Jugend wird immer präsenter. Und die Zeiten, die sich in die Seele brennen", sagt Sibel Linz, die Heimleiterin. Was sie auch beobachtet: Die Lebensjahre, die gut waren, verschwimmen am Ende. Und so erzählt Anni Buchholz sehr wenig über die 1950er, die 1960er, die 1970er, die 1980er, die 1990er und die Zeit bis heute. Seit etwa anderthalb Jahre lebt sie im Seniorenzentrum Waldenfels, denn ihre Kräfte lassen nach. Die geistige Klarheit aber ist geblieben.
Adenauer und Hitler gesehen
"Ich habe den Adenauer gesehen, als er Oberbürgermeister war", erinnert sich die alte Frau. Von 1917 bis 1933 und für einige Monate des Jahres 1945 war Konrad Adenauer Oberbürgermeister von Köln. Nach dem Krieg wurde er der erste Bundeskanzler der frisch gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Hitler habe sie auch gesehen, an einem Kölner Hotel. Ein Schimpfwort fällt, dann springt sie wieder zurück in die 1920er. "Unsere Oma hat uns immer Kleidchen genäht. Wir waren ja arm. So eine Zeit werden wir ja wohl nie wieder bekommen."
Frauen, Männer, Rollenmuster und Klischees: Anni Buchheim schwingt keine großen Reden. Sie erzählt nur, wie es damals war. "Die Oma hat uns Mädchen nichts lernen lassen. Das war nicht modern." Steno habe sie sich selbst beigebracht, bis zu ihrer Hochzeit als Schreibkraft gearbeitet. Mit 19 Jahren heiratete sie einen 27 Jahre älteren Berufsfeuerwehrmann. "Wir haben uns wunderbar verstanden", sagt sie und erzählt, wie sich die beiden zum ersten Mal an einer Straßenecke verabredeten. Es war ihr schönster Moment im Leben, sagt sie. Ein Sohn und eine Tochter kamen zur Welt. Ihr selbst war wichtig, dass die Kinder etwas lernen, auch die Tochter.
"Das Leben ist schön"
Die Hausarbeit, der Garten, nähen, stricken - bis die Hände nicht mehr wollten und konnten - und Radfahren, das war das Leben von Anni Buchheim. Ihr Mann starb zu früh, dass schwingt auch nach Jahrzehnten noch mit. Dennoch: "Das Leben ist schön", sagt Buchheim. Das Wichtigste sei ohnehin die Liebe - egal ob zum Partner, den Kindern, der Familie.
"Bis vor wenigen Jahren hat sie auch noch in der Politik gut Bescheid gewusst", erzählt ihre Tochter Edith Radunski. Nach Jahrzehnten in Rothenburg ob der Tauber hat es sie mit ihrem Mann in die Rhön verschlagen. "Wir kannten die Gegend hier. Sie gefällt uns sehr", sagt die 72-Jährige. Nachdem ihre Mutter einen Schlaganfall hatte, konnte sie die Betreuung zuhause nicht mehr leisten. "Es ist schwer für sie zu akzeptieren, jetzt hier zu sein", sagt Radunski leise, aber fest.
Buchheims Lieblingsplatz ist im Foyer. Dort sitzt sie und beobachtet die Menschen. Lebensbejahend und zukunftsorientiert, so beschreibt ihre Tochter sie. "Auch wenn nicht alles nach ihren Wünschen ist, hält sie schon am Leben fest", sagt Edith Radunski. Sibel Linz spürt keine Bitterkeit bei Anni Buchheim, nicht einen Hauch. Das schafft nicht jeder. "Jeder ist anders", sagt Linz. "Es würde auch jeder Bewohner seine Geschichte erzählen - wie ihn sein Leben geprägt hat."
90 Plätze gibt es im Seniorenzentrum Waldenfels. 15 Senioren können in der Tagespflege betreut werden.
100 Mitarbeiter beschäftigt das Seniorenzentrum Waldenfels aktuell - in Voll- und Teilzeit.