Erst mit den Reichsgesetz von 1871 erhalten die Juden die vollen Rechte, so dass von 1850 bis 1930 von der Blütezeit der jüdischen Gemeinde in Hammelburg gesprochen werden kann. Sie waren, obwohl orthodox ausgerichtet, weitgehend integriert, sogar im Magistrat der Stadt vertreten. Nach dem großen Stadtbrand von 1854, während des Ersten Weltkrieges und im Vereinsleben engagierten sich auch die jüdischen Mitbewohner für ihre Gemeinde und ihr Vaterland. 1873 wird die Judenschule errichtet. Ab 1910 bekommt die israelische Kultusgemeinde staatlichen Zuschuss für Religionsunterricht. Der Anteil von 20 Prozent jüdischer Schüler im Progymnasium war überproportional im Vergleich zum vierprozentigen Bevölkerungsanteil.
Nur 600 Schritte am Feiertag
Anton Ruppert erzählte, wie die christlichen Kinder wie selbstverständlich den streng orthodoxen Juden am Sabbath das Licht an- und ausknipsten oder die Schultasche in den Unterricht trugen. In der Nähe der Synagoge befand sich das "Schabbesgärtle" (bei der heutigen Gärtnerei Schlereth in der Rote-Kreuz-Straße), zu dem die Juden durch ein Gässchen am Sabbath hinwandelten. Denn mehr als 600 Schritte waren den Orthodoxen am Feiertag nicht erlaubt.
1933 begann schnell die abermalige Entrechtung der Juden. So konnten Juden nur noch als Viehhändler arbeiten, die Badschule nur isoliert eine Stunde am Tag benutzen. Die Verfolgung eskalierte in der Zerstörung der Inneneinrichtung der Synagoge einen Tag nach der Reichskristallnacht am 10. November 1938, zu der auch auswärtige SA-Leute mit dem Laster hergebracht wurden. Aus Angst vor Übergreifen des Brandes auf Nachbarhäuser ist der Synagoge das Schicksal vieler anderer jüdischer Gotteshäuser erspart geblieben, wurde aber von der NSDAP in Besitz genommen.
Anton Ruppert berichtete, dass der Marktplatz weiß gewesen sei von aufgeschlitzten Federbetten. Karl-Heinz Maul verwies nochmals darauf, dass auch 26 Juden aus Hammelburg in Konzentrationslager umgebracht wurden und nicht alle auswandern konnten. Erstaunlich ist, dass bis 1936 im Progymnasium ein jüdischer Schüler unterrichtet wurde.
Viele Kontakte geknüpft
Weiter führte der Rundgang in die Dalbergstraße, die vor 1933 Judengasse hieß und auch von vielen Juden bewohnt wurde. Anton Ruppert hat eine Liste erstellt, in der die Wohn- und Geschäftshäuser ihm bekannter jüdischer Familien aufgeführt sind. Um den Viehmarkt und Marktplatz verteilten sich die Wohnhäuser und Geschäfte bekannter Familien wie die der Nussbaum, Stühler, Stern, Frank, Leikauf. Eine herausragende Persönlichkeit war Berthold Schlesinger (1854-1941), der im Schlesingerhaus, jetzige Falkenapotheke, wohnte. Er und sein Freund Pfarrer Martin sind Mitbegründer des Darlehenskassenvereins, der sich zur Raiffeisenbank weiterentwickelte. Schlesinger und seine Töchter konvertierten zum katholischen Glauben wie auch ein Drittel aller deutschen Juden von 1871-1920. Für viele Juden, darunter auch bekannte Persönlichkeiten wie Heinrich Heine, bot diese Assimilation ein Billet zum Eintritt in die Gesellschaft. Aber der Übertritt zum katholischen Glauben schützte nicht vor Verfolgung. Schlesingers Frau gründete die erste Kinderbewahranstalt, den Vorläufer des heutigen St.-Josef-Kindergartens.
Zum 50. Jahrestag der Befreiung durch die Alliierten 1995 wurde der Samuel-Sichel-Platz eingeweiht, auf dem bis 1936 die Familie Sichel eine Getreidehandlung betrieb. Der Enkel Arnold Sichel hielt damals eine bewegende Rede und erzählte auch Schülern von seinem früheren Leben in Hammelburg.