
Der Mann auf der Anklagebank hat psychische Probleme. Er leidet nach eigenen Angaben an Autismus . Bei dieser Krankheit handelt es sich um eine komplexe Entwicklungsstörung, die die Kommunikation und soziale Interaktion mit anderen Menschen beeinträchtigt.
Aber warum muss sich der 50-Jährige vor Gericht verantworten, der doch nur ärztliche Hilfe wollte? Der Fall offenbart eine haarsträubende Geschichte und zeigt einen Angeklagten, der die Geduld des Gerichts bis an die Grenze ausreizt.
Ständige Zwischenrufe
Die Staatsanwältin wirft dem Angeklagten Körperverletzung, Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vor. Während er die Anschuldigungen hört, hat der Mann offensichtlich Mühe, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Immer wieder fällt er der Anklagevertreterin ins Wort und wird dafür von der Richterin ermahnt.
Was an diesem verhängnisvollen Tag im April vergangenen Jahres passierte, kommt Stück für Stück ans Licht. Er habe über den Patientenservice unter der Telefonnummer 116117 einen Termin bei einem Psychologen bekommen wollen. Doch er muss die Nummer verwechselt haben und landete bei einer Stelle, die Menschen mit akuten Selbstmordgedanken hilft.
"Wollen Sie gegen eine Mauer fahren?"
Das merkt er aber nicht gleich und wundert sich über die Fragen, die ihm gestellt werden. Ob er oft Suizidgedanken hat? Will er sich ins Auto setzen und gegen eine Mauer fahren?
Schließlich wird es dem Hilfesuchenden zu blöd. "Man kann auch sterben, wenn man die Badewanne mit Chlorreiniger und Essig putzt", sagt er. Tatsächlich entsteht bei der Vermischung dieser Substanzen Chlorgas, das beim Einatmen größerer Mengen zum Tod führen kann.
Polizei wird informiert
Einen Termin bekommt der 50-Jährige bei diesem Telefonat nicht. Aber für den Mitarbeiter der Hotline ist die Sache noch nicht beendet. Er verständigt die Polizei , weil er eine starke Selbstmordgefährdung vermutet.
Bei der Polizeiinspektion Hammelburg nimmt man den möglichen Selbstmordversuch sehr ernst. Sofort wird eine Streife losgeschickt, um den Mann zu suchen. Doch an seiner Wohnadresse ist er nicht zu finden und ans Telefon geht er auch nicht.
Trennung von Partnerin
Die Beamten fahren zur Mutter des 50-Jährigen, die bestätigt, dass ihr Sohn mentale Probleme hat und schon mehrmals Selbstmordgedanken geäußert habe. Sie gibt den Polizisten die Adresse der langjährigen Partnerin des Angeklagten, die sich kurz zuvor von ihm getrennt hatte.
Die Ex-Freundin ist Fachkraft für Psychosomatik. "Es gab immer wieder Phasen latenter Suizidgedanken", sagt sie aus. Sie habe vermitteln wollen und den 50-Jährigen schließlich telefonisch erreicht. Er solle zu ihrem Haus kommen, um mit der Polizei zu sprechen, bittet sie ihn.
Tritt gegen Autotür
Das macht er auch. Die Beamten wollen den sehr aufgebrachten Mann beruhigen. Doch das nutzt nichts. Er dreht sich um und läuft zu seinem Auto. Aber die Polizei will ihn nicht wegfahren lassen. Ein Ordnungshüter stellt sich in die geöffnete Wagentür.
Der 50-Jährige tritt gegen die Fahrzeugtür. "Mit voller Wucht", sagt der Polizist, der die Tür gerade noch mit beiden Händen vom Körper weghalten konnte.
Gestrecktes Bein
Jetzt hält es den Angeklagten nicht mehr auf seinem Platz. Er springt auf, setzt sich auf den Tisch und schleudert sein rechtes Bein in Höhe. "Sehen Sie, das sind die Sicherheitsschuhe, die ich an dem Tag anhatte", schreit er. Die Richterin hat die Schuhe gesehen und weist ihn an, sich zu setzen.
Es sei nur ein leichter Stoß gewesen, erklärt er. "Ein starker Tritt hätte doch Beschädigungen an der Tür verursacht, die gibt es aber nicht", fährt er fort.
Faustschlag in den Unterleib
Vor dem Haus der ehemaligen Freundin eskaliert die Situation völlig. Mittlerweile ist ein weiterer Streifenwagen eingetroffen. Die Beamten versuchen, den außer Kontrolle geratenen Mann auf den Boden zu legen und ihm Handschellen anzulegen.
Doch der wehrt sich heftig. Ein Polizist bekommt einen Faustschlag in den Unterleib. Bereits auf dem Bauch liegend, versucht er mehrmals, einen neben ihm knienden Beamten in den Oberschenkel zu beißen, schafft es aber nicht. Während der gesamten Aktion schreit er wüste und vulgäre Beleidigungen an die Adresse der Ordnungshüter.
Angeklagter liegt auf dem Fußboden
Plötzlich springt der Angeklagte wieder auf, um die damalige Situation sehr drastisch zu verdeutlichen. Er legt sich auf den Boden vor dem Richtertisch. Als er merkt, dass die Vorsitzende ihn von ihrem Platz aus nicht sehen kann, springt er wieder auf und legt sich bäuchlings in die Mitte des Gerichtssaals.
Diese Aktion irritiert Richterin und Staatsanwältin offensichtlich stark. Vermutlich haben die Juristinnen während ihrer gesamten Laufbahn noch nie einen Angeklagten vor sich auf dem Bauch liegen sehen.
"Auf keinen Fall nach Werneck!"
Den Beamten gelingt es an diesem Tag im April 2024 schließlich, dem Mann Handschellen anzulegen und sie setzen ihn wieder auf. "Ich hätte mir das alles ersparen können, wenn ich mir das Leben genommen hätte", sagt der 50-Jährige, der sich langsam wieder beruhigt.
Schließlich beteuert er, dass er psychologische Hilfe gerne annehmen werde, aber auf keinen Fall in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie in Werneck will. Die Beamten fragen sich, was sie tun sollen.
In Klinik gebracht
Ein Polizist nimmt die Ex-Partnerin beiseite und fragt sie nach ihrer Einschätzung. Die Einweisung in eine psychiatrische Klinik sei wohl das Beste, antwortet sie.
Ein Streifenwagen bringt den Mann nach Werneck. Der behandelnde Arzt attestiert "eine akute Belastungsreaktion". Die Folgen seien eine Bewusstseinseinschränkung sowie panische Angst. Auslöser können "entscheidende Lebensveränderungen sein", liest die Richterin aus dem Gutachten vor.
Steuerungsfähigkeit eingeschränkt
Der Psychiater schreibt weiter, dass "die Steuerungsfähigkeit des Patienten zur Zeit des Vorfalls erheblich eingeschränkt war". Allerdings sei sie nicht völlig aufgehoben gewesen.
Die Staatsanwältin sieht nach der Beweisaufnahme alle Anklagepunkte bestätigt. Bei der Bemessung der Strafe habe sie die verminderte Schuldfähigkeit und die emotionale Ausnahmesituation als mildernde Umstände berücksichtigt. Eine Haftstrafe auf Bewährung von vier Monaten hält sie für angemessen.
"Ich zeige meine Emotionen offen"
Der Angeklagte hat das letzte Wort. Er spricht jetzt ruhig und deutlich, hat sich wieder im Griff. "Ich zeige meine Emotionen offen, was oft als aggressives Verhalten ausgelegt wird", sagt er.
Er zeigt einen Kopfhörer, den er während der Verhandlung einige Male aufgesetzt hatte. Er höre darüber ein "Weißes Rauschen", das auf ihn beruhigend wirke.
Die Unterbringung in einer geschlossenen Station sei für ihn "die Hölle", weil er dort nicht die Möglichkeit habe, sich zurückzuziehen. Wegen seiner mentalen Erkrankung könne er die dort herrschende permanente Reizüberflutung nicht ertragen.
Weil die Polizisten eine Unterbringung in Werneck vorgeschlagen hatten, sei er ausgerastet und habe sich deshalb so vehement gewehrt. "Ich will doch nur, dass mich alle in Ruhe lassen", sagt er.
Das Urteil
Die Richterin schließt sich der Forderung der Anklagevertreterin an und verhängt eine Haftstrafe von vier Monaten, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wird. Zudem soll der Mann einem Bewährungshelfer unterstellt werden.
Die Vorsitzende erklärt dem Mann , dass die verhängte Strafe äußerst milde ausgefallen ist: "Normalerweise gibt es dafür acht bis neun Monate."
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, weil Rechtsmittel eingelegt werden können.
Hinweis der Redaktion
Wenn Sie Gedanken quälen, sich selbst das Leben zu nehmen, dann kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800/1110111 oder 0800/1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können.