
Die Zahlen, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser ( SPD ) vorlegte, sind erschreckend. Im Vergleich zu 2022 haben sich 2023 die Anzahl der antisemitischen Straftaten auf 5164 Fälle fast verdoppelt. Und: Mehr als 50 Prozent der Delikte wurden nach dem Massaker in Israel am 7. Oktober 2023 begangen. Die Auswirkungen des um sich greifenden Antisemitismus sind auch in Bad Kissingen zu spüren. dort steht das Kurheim Beni Bloch, eine kulturelle Einrichtung für Jüdinnen und Juden. Wir sprachen mit Aron Schuster , Präsident der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland , die Träger des Heimes ist, über die Angst der Menschen im Kurheim Beni Bloch. Aron Schuster ist der Sohn von Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken.
Herr Schuster, was ist die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland?
Die ZWST ist einer von sechs Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland, neben der Diakonie, Caritas , AWO, dem Paritätischen und dem DRK. Die ZWST macht sich Teilhalbe und Empowerment marginalisierter Zielgruppen, wie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, Geflüchtete, Alte, Alleinerziehende oder Schoa-Überlebende zur Kernaufgabe.
Das Kurheim Beni Bloch ist eine deutschlandweit einzigartige Einrichtung, in Bad Kissingen können sich Jüdinnen und Juden weiterbilden, Kontakte knüpfen. Warum ist das so wichtig?
Der Schwerpunkt der Arbeit vor Ort sind Integrations-, Qualifizierungs- und Bildungsinhalte für Senioren. Darunter überwiegend sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, von den vielen mangels Anerkennung ihrer Qualifikationen nicht im Arbeitsmarkt integriert werden konnten und daher auch kein ausreichendes Rentenniveau erzielten, um ohne Grundsicherung im Alter auszukommen. Viele der unter Altersarmut leidenden Menschen haben eben nur sehr begrenzte soziale oder auch kulturelle Teilhabemöglichkeiten. Umso wichtiger sind die von uns konzipierten Aufenthalte im Kurheim Beni-Bloch.
Und die Voraussetzung ist, jüdischen Glaubens zu sein?
Ja, die beschriebenen Bildungsaufenthalte richten sich gezielt an die Mitglieder der über 100 angeschlossenen jüdischen Gemeinschaften in Deutschland. Die Beni-Bloch-Besucher kommen aus der ganzen Bundesrepublik von Aachen bis Cottbus und Kiel bis Konstanz. Die Menschen kommen wahnsinnig gern nach Bad Kissingen, weil die Stadt so viel – vor allem kulturell – zu bieten hat.
"Es ist Teil unseres Sicherheitskonzepts, dass wir hier kommunikativ sehr zurückhaltend agieren."
Als ich kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober versuchte, mit den Verantwortlichen im Kurheim in Kontakt zu treten, bin ich gescheitert. Die Menschen dort haben Angst. Wie ist es zurzeit, als Jude in Deutschland zu leben?
Es ist wichtig, folgendes festzuhalten: Das Massaker der Hamas und die weltweite Welle antisemitischer Gewalt stellt eine bis dato nie erlebte Zäsur für jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 dar. Die Folgen sind nahezu in jedem öffentlichen und privaten Bereich jüdischen Lebens zu spüren, egal ob in Schulen, Universitäten oder am Arbeitsplatz. Der psychische Druck wirkt auf mehreren Ebenen. Zum einen ist da der Krieg, der Terror , die politischen Konsequenzen und die Sorge um Freunde und Familien in Israel. Auf der anderen Seiten sind Juden und Jüdinnen mit einer realen Bedrohungs- und konkreten Gefährdungslage in Deutschland konfrontiert, die dazu führt, dass Eltern große Sorgen haben vor Angriffen auf jüdische Kindergärten oder Schulen - oder jüdische Gemeinden ihre Mitglieder dazu aufrufen, keine sichtbaren Symbole wie Kippa oder Davidstern zu tragen oder bestimmte Plätze zu meiden.
Deshalb auch die Vorsicht im Kurheim Beni Bloch?
Ja. Es ist Teil unseres Sicherheitskonzepts, dass wir hier kommunikativ sehr zurückhaltend agieren. Vor allem, was die Berichterstattung über das Haus und seine Arbeit angeht.
Ist das eine Zäsur?
Es hat sich vieles für uns nach dem 7. Oktober verändert. Die Sicherheitslage hat sich verschärft. Wir stehen mit den örtlichen Sicherheitsbehörden im ständigen Austausch. Jede Veranstaltung, jedes Seminar, jede Fortbildung unseres Verbandes benötigt ein aufwendiges Sicherheitskonzept.
In den 1980er-Jahren war ich mit dem Kreisjugendring Bad Kissingen in einem israelischen Kibbuz, wohnte in einer Familie in Haifa. Der Großvater hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass „so etwas“ wieder in Deutschland passieren könne. Ich, etwa 15, habe geantwortet, dass ich mir das nie und nimmer vorstellen könne – die Aufklärung spätestens ab der siebten Klasse Gymnasium war umfangreich, detailreich. Nie hätte ich mir eine derartige Geschichtsvergessenheit vorstellen können, wie sie heute mit dem Antisemitismus einhergeht. Wie geht es Ihnen?
Die heutige Situation kann nicht mit den 1930er-Jahren verglichen werden. Politik und Staat bekennen sich klar und eindeutig zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. In den 30er-Jahren konnte sich kein Jude auf Justiz oder Polizei verlassen, im Gegenteil. Die Umfragewerte zu den anstehenden Wahlen in Brandenburg und Sachsen bereiten mir jedoch große Sorge. Die AfD ist eine politische Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland.
"Es gibt unzählige Übergriffe: Hakenkreuzschmierereien an den Haustüren von Jüdinnen und Juden beispielsweise."
Antisemitismus ist vielschichtig.
Richtig. Antisemitismus kommt aus dem Rechtsextremismus, der muslimischen Community, unter dem Tarnmantel der angeblichen Israelkritik verstärkt auch von Links, wie wir derzeit im Kultur-, Hochschulbereich oder der Klimaschutzbewegung beobachten, aber auch aus der Mitte der Gesellschaft und immer heftiger über die sozialen Medien. Hinzu kommt der andauernde Versuch, Antisemitismus politisch zu instrumentalisieren. Umso wichtiger ist es, alle Formen klar beim Namen zu benennen.
Haben Sie sich bis zum 7. Oktober in Sicherheit gefühlt? Antisemitismus war klar vorhanden, aber nicht so deutlich wie jetzt.
Die Statistiken sprechen eine eindeutige Sprache. Antisemitismus ist seit dem 7. Oktober spürbarer, radikaler geworden und wird offener vorgetragen. Es gibt unzählige Übergriffe: Hakenkreuzschmierereien an den Haustüren von Jüdinnen und Juden beispielsweise. Wobei es ein Gefälle zwischen Land und Großstadt gibt, in Bad Kissingen haben wir weniger Situationen erleben müssen als in Großstädten. Hier werden Menschen in U-Bahnen beleidigt, wenn sie sich auf dem Handy etwas in einem hebräischen Kontext ansehen. Besondere Sorge bereitet mir der Antisemitismus in Bildungseinrichtungen wie Schulen – und hier sind Lehrkräfte oft überfordert, Vorfälle richtig einzuordnen und zu intervenieren.
Haben jüdische Schulen nun mehr Zulauf?
Ja und nein. Ich kenne Eltern, die ihre Kinder bewusst in jüdische Schule oder Kitas schicken, weil Sie einen geschützteren Raum suchen. Mir sind aber auch Abmeldungen bekannt, weil die Eltern Angst vor Anschlagsszenarien auf jüdische Einrichtungen haben.
Ein besonders schlimmer Tag muss für die jüdische Community der 13. Oktober 2024 gewesen sein, als es zahlreiche pro-palästinensische Demonstrationen in Deutschland gab.
Ja, der sogenannte „Tag des Zorns“, ausgerufen von der Hamas . So etwas habe ich noch nicht erlebt. Ein Tag, an dem Pogromstimmung in der Luft lag. Jüdische Schulen und Kitas waren gähnend leer, weil Eltern Angst vor Terrorszenarien hatten. Ein gespenstischer Tag. Und ein gutes Beispiel dafür, welche immense Wirkung die psychologische Kriegsführung der Hamas weltweit hat.
"Integration braucht Zeit, viel Zeit, finanzielle Ressourcen, aber auch Grenzen müssen klarer aufgezeigt und gelebt werden."
Was wünschen Sie sich von Politik und Gesellschaft?
Zum einen ein noch ausgeprägteres, gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für das Ausmaß des Antisemitismus . Wobei ich festhalten will, dass die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft auch durch die zahlreichen projüdischen und -israelischen Kundgebungen größer geworden ist. Es bleibt aber noch Luft nach oben.
Und die Politik?
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Integrationsprozesse viel komplexer und langwieriger sind, als wir bislang glaubten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Integration in einigen, vor allem großstädtischen Milieus völlig gescheitert ist. Integration braucht Zeit, viel Zeit, finanzielle Ressourcen, aber auch Grenzen müssen klarer aufgezeigt und gelebt werden.
Aber es sind nicht nur Muslime.
Nein, natürlich nicht. Aktuell nehme ich wahr, dass sich bei der Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung oder des Militärs sehr schnell eindeutigen antisemitischen Ressentiments bedient wird. Und wenn wir uns vor Augen halten, was an Unis in den USA und mittlerweile auch in Deutschland passiert, dann handelt es schlichtweg um puren Hass und Antisemitismus , der sich auch konkret gegenüber jüdischen Studierenden bemerkbar macht. Wir sollten nicht so naiv sein zu glauben, dass die diese sogenannten propalästinensischen Initiativen gutmeinende Friedenskämpfer sind. Im Gegenteil, sie gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Weitere Informationen zum Kurheim Beni Bloch in Bad Kissingen gibt es auf der Internetseite: www.zwst.org
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