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Bad Brückenau
Am Tisch mit einem Täter?
Bei einer USA-Reise lernte Ehrensberger ein älteres Ehepaar kennen. Eines Morgens waren die Eheleute nicht mehr da....
Hans-Peter Ehrensberger, Mitarbeiter der Saale-Zeitung hat eine ganz spezielle Erinnerung zum Auschwitz-Gedenktag. Foto: Steffen Standke       -  Hans-Peter Ehrensberger, Mitarbeiter der Saale-Zeitung hat eine ganz spezielle Erinnerung zum Auschwitz-Gedenktag. Foto: Steffen Standke
| Hans-Peter Ehrensberger, Mitarbeiter der Saale-Zeitung hat eine ganz spezielle Erinnerung zum Auschwitz-Gedenktag. Foto: Steffen Standke
Hans-Peter Ehrensberger
 |  aktualisiert: 10.02.2024 21:48 Uhr

Zum 76. Mal jährt sich am 27. Januar die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee . Mindestens 1,1 Millionen Juden wurden in dem Lagerkomplex von den Nazis ermordet. In der Nachkriegszeit wurde der Name "Au­schwitz" zum Symbol für den Holocaust . Der Jahrestag der Befreiung des KZ ist seit 1996 in Deutschland, seit 2005 international "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus". Saale-Zeitungs-Mitarbeiter Hans-Peter Ehrensberger schildert seine ganz speziellen Gedanken dazu. Die basieren auf einem Erlebnis von vor fast 30 Jahren.

Mein ganz persönliches Gedenken an den Auschwitz-Gedenktag beginnt vor nunmehr fast drei Jahrzehnten im Spätsommer des Jahres 1991. Mit meiner Frau, meinem Bruder und einer rund 20-köpfigen Reisegruppe befand ich mich auf einem dreiwöchigen Trip quer durch die USA. Per Bus, Bahn und Flugzeug ging es vom Osten über den Süden in den (Wilden) Westen und wieder zurück. Schon bei der Einreise tauchte ein "Verzögerungs-Problem" auf: Am Flughafen in New York mussten wir drei Stunden warten - auf ein älteres Ehepaar, wie sich herausstellte...

Fast eineinhalb Wochen saßen der Mann und die Frau aus Norddeutschland fortan an unserem Frühstückstisch und beim Abendessen, hinter uns im Bus, neben uns im Flieger, am Abend bei einem Absacker gemeinsam mit der Gruppe an der Bar. Nette ältere Leute waren das, so um die 70, im Alter unserer Eltern. Man kam ins Gespräch, vertiefte das eine oder andere Thema, plauderte oberflächlich "über Gott und die Welt". Typisch deutsch halt.

Am frühen Abend noch genossen wir ein "Special Dinner" im schönsten Wolkenkratzer San Franciscos mit Blick auf die Bay und die Golden Gate Bridge, die beiden älteren Herrschaften waren freundlich und zufrieden, ja wirkten regelrecht aufgekratzt und euphorisch ob der einmaligen Umgebung und des außergewöhnlichen Moments - wie alle in der Reisegruppe.

Am nächsten Morgen fehlten beide beim Frühstück. Wie auch unsere deutschsprachige, weil -gebürtige Reiseleiterin. Auf Englisch ließ ein eilends herbei zitierter "weiblicher Ersatz-Guide" die Gruppe wissen, sie werde für die kommenden, voraussichtlich drei Tage, gemeinsam mit dem Busfahrer die Leitung bei den Sightseeing-Touren übernehmen. "There are some problems with the old couple."

Ungeheuerliche Anschuldigungen

Nach vier Tagen, mittlerweile in Los Angeles, war unsere "richtige" Reiseleiterin wieder da. Sie musste als Dolmetscherin fungieren. Vor einem Militärgericht in Washington. In Anwesenheit und gemeinsam mit dem deutschen Militär-Attache quasi als Anwälte die deutschen Senioren vor einem amerikanischen Gerichtshof verteidigen.

Die ungeheuerliche Anschuldigung und der Grund für das Verfahren: Der Mann war offenbar Aufpasser im Konzentrationslager in Auschwitz gewesen. KZ-Wächter ! Das würden Unterlagen, die den amerikanischen von russischen Ermittlungsbehörden in Zeiten von Glasnost, Perestroika und deutscher Wiedervereinigung zugespielt worden waren, zweifelsfrei belegen und eindeutig beweisen. Dem Mann und der Frau wurden ihre Reisepässe abgenommen, beide umgehend zur Ausreise aus den Vereinigten Staaten gezwungen, ins nächste Flugzeug nach Deutschland gesetzt, das weitere Gerichtsverfahren sollte die bundesdeutsche Justiz übernehmen.

Das wenige, eigentlich Vertrauliche, was unsere (wie die restliche Gruppe) schwer geschockte Reiseleiterin noch preisgeben durfte, war, dass der schwer beschuldigte Kriegsverbrecher seine Taten zugab, seine Frau und die gemeinsamen Kinder des Paares offensichtlich nichts von der schrecklichen Vergangenheit ihres Gatten und Vaters wussten. Sie habe ihren Mann in einem Lazarett kennengelernt, als Krankenschwester ihn als Schwerverwundeten gepflegt, in all den Jahren ihrer langen Ehe nie einen Schwerverbrecher neben sich geglaubt...

Biedermann und Brandstifter ?! Ein Massenmörder neben sich im Ehebett?! Ein liebender Vater?! Ein die Vergangenheit verdrängender KZ-Aufseher aus Auschwitz?! Ein netter älterer Herr neben uns am Frühstückstisch. 50 Jahre später auf einer USA-Tour?! Mit oder ohne Schuldgefühle?! Mit oder ohne Albträume?! Ausgelöschte Erinnerungen an ausgelöschte Menschenleben?! An einige, dutzende, hunderte, tausende, mehr als eine Million allein in Auschwitz, insgesamt sechs Millionen vernichte Juden während der Shoah...?!

Erinnerungen kommen immer wieder

Fragen, auf die ich keine Antworten finde. Erinnerungen, die hochkommen seit nunmehr fast 30 Jahren nach jener schicksalhaften Begegnung während eines USA-Urlaubs. Die mir Mahnung sind an jenem 27. Januar eines jeden Jahres. Verachtung für den Auschwitz-Wärter. Den Mitwisser. Den Mittäter. Den mutmaßlichen Auschwitz-Massenmörder. Am Auschwitz-Gedenktag.

Aber nicht nur an diesem Datum, nicht nur in diesem zeitlichen Kontext. Schon in der Schule war es das eigentlich Unvorstellbare, das Unbegreifliche. Später bei der Bundeswehr , als ich mich als junger Wehrpflichtiger nicht in der Lage sah, während zweier Aufenthalte auf den Truppenübungsplätzen in Bergen-Hohne und Grafenwöhr die benachbarten KZ-Gedenkstätten Bergen-Belsen und Flossenbürg zu besuchen. Während des Studiums hatte ich in Dachau Seminare, zu einem Besuch des dortigen Lagers konnte ich mich nicht überwinden. Schuldgefühle kamen auf, als ich das Tagebuch der Anne Frank nicht zu Ende lesen konnte. Scham, als ich während des Volontariats die Synagoge in Veitshöchheim besuchte. Beklemmung, als ich der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Fulda die "Geschichte" aus Amerika erzählte, sie David Schuster aus Würzburg am Telefon indes verschwieg.

Genugtuung empfinde ich, wenn sich dessen Sohn Josef als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland in dessen Heimatort für Stolpersteine als Erinnerung an die deportierten jüdischen Mitbürger Bad Brückenaus ausspricht und in der Nähe des Würzburger Bahnhofs der Holocaust-Gedenktag des Bayerischen Landtags am DenkOrt Deportationen stattfindet.

Angst, Entsetzen und Wut verspüre ich, wenn ich in den Medien von Gaulands "Vogelschiss" als Relativierung der Nazi-Zeit in der 1000-jährigen deutschern Geschichte lesen, von rassistisch oder religiös motivierten Übergriffen auf jüdische Mitbürger hören oder Terroranschläge auf Synagogen in Halle oder Menschen mit Migrationshintergrund in Hanau zeitgleich und live in den Social Networks miterleben muss. Wehret den Anfängen.

Hans-Peter Ehrensberger

 
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  • bdoerfner@t-online.de
    Wollen Sie jetzt den KZ Wächter entschuldigen? Die Ausrede" man habe keine Schuld es war doch alles nicht so schlimm", habe ich zu oft gehört. Wer an einer solchen Stelle sich eingebracht hat war in meinen Augen von der NS Ideologie überzeugt und kein armer verirrter Mitläufer.
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  • eboehrer@gmx.de
    An den Autor: Ich stimme Ihnen in fast allem zu. Ich möchte nicht in der Situation des KZ-Wächters gewesen sein. Darf ich fragen, was er denn hätte machen sollen? Den Dienst verweigern? Vielleicht hat er auch mal absichtlich vorbeigeschossen? Das wäre jetzt interessant gewesen, was der Wächter berichtet hat.
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