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Bad Kissingen
Allein geflüchtet - und jetzt in Deutschland in der Schule
Matiullah und Hussein sind mit 14 Jahren ganz alleine aus Afghanistan und Syrien geflüchtet und nach Bad Kissingen gekommen. Dank Jugendhilfe, Schule und Jugendamt konnten sie in der Fremde Fuss fassen.
Matiullah und Hussein sind ohne Begleitung von Erwachsenen aus ihrer Heimat geflohen. Inzwischen haben sie   in Bad Kissingen   Fuss gefasst.       -  Matiullah und Hussein sind ohne Begleitung von Erwachsenen aus ihrer Heimat geflohen. Inzwischen haben sie   in Bad Kissingen   Fuss gefasst.
Foto: Angelika Despang | Matiullah und Hussein sind ohne Begleitung von Erwachsenen aus ihrer Heimat geflohen. Inzwischen haben sie in Bad Kissingen Fuss gefasst.
Angelika Despang
 |  aktualisiert: 09.10.2022 14:42 Uhr

"Du musst gehn!", sagte der Vater zu Matiullah, als die Taliban in sein Haus kamen. Matiullah wollte nicht von zu Hause fort gehen. Und vor allem nicht alleine. Doch sein Vater konnte wegen der kleineren Geschwister nicht mit ihm gehen. Also ist Matiullah alleine losgezogen, den ganzen Weg von Afghanistan nach Deutschland. Da war er gerade mal 14 Jahre alt. Sieben Monate hat seine Flucht zu Fuß und mit dem Auto gedauert. Die meiste Zeit war er alleine unterwegs, in der Türkei hat er einen Freund gefunden, zusammen haben sie es hierher geschafft.

Ganz alleine auf der Flucht

Matiullah ist einer von acht unbegleiteten Flüchtlingen an der Anton-Kliegl-Mittelschule in Bad Kissingen . Unbegleitet heißt, dass Minderjährige ganz alleine flüchten, ohne Eltern, Familie oder sonstige Erwachsene, die für sie verantwortlich sind. Inzwischen ist er seit einem Jahr in Bad Kissingen , geht in die 8. Klasse und spricht schon ziemlich gut Deutsch. Seit der Flucht hat er nichts mehr von seinen Eltern und Geschwistern gehört. Er hat nur zu seiner Tante Kontakt, ob seine Eltern und Geschwister noch leben, weiß er nicht.

Teenager muss zwischen Krieg und Flucht entscheiden

Auch Hussein (17) ist alleine hier. Als er vierzehn war stand das Militär vor seiner Haustür in Syrien zur Zwangsrekrutierung. Da musste er sich zwischen Krieg und Flucht entscheiden. Seine Eltern blieben bei den kleineren Geschwistern, als er sein Zuhause verließ. Hussein hat regelmäßig Kontakt zu ihnen. Ein Onkel von ihm lebt in Norddeutschland.

Dolmetscher fehlt im Unterricht

Beide Jungs gehen in die Deutschklasse an der Mittelschule. Sie besteht aus zehn Schülern im Alter von 14 bis 18 Jahren. Hier liegt der Unterrichtsschwerpunkt natürlich erstmal auf dem Erlernen der neuen Sprache: "Das ist nicht so einfach, weil wir ja keine Dolmetscher haben und die Kinder oft nur ihre Muttersprache sprechen, wenn sie herkommen", sagt Klaus Neumeyer, einer der zwei Klassenlehrer , "deshalb wird am Anfang mit Bildern gearbeitet oder wir gehen mit den Jugendlichen in den Supermarkt und zeigen auf die Dinge." Je nachdem dauert es, bis sich Lehrer und Schüler auf Deutsch verständigen können. "Mathematik und Geografie sind kein Problem, da ist wenig Text und man kann mit Karten arbeiten", so Neumeyer.

Große Bildungsunterschiede

Allerdings sind die Bildungsdefizite teils massiv, da manche Kinder in ihren Heimatländern noch nie eine Schule besucht haben, bestenfalls eine Koranschule : "Manche Jugendliche in unserer Klasse lernen gerade den Zahlenraum bis 20, andere machen Funktionsrechnungen", erklärt Bernhard Häreth, der zweite Lehrer der Deutschklasse, "das ist schon eine sehr große Spanne, die wir da als Lehrer abdecken müssen." Aber auch deutsche Regeln und Werte werden vermittelt, Respekt und Geduld, Pünktlichkeit, Höflichkeitsformeln und das Frauen- und Männerbild hierzulande. "In einer Regelklasse hätten diese Kinder keine Chance", so die Klassenlehrer , "aber das Schöne ist, dass sie von Kindern gleicher Herkunft unterstützt und an die Hand genommen werden." Deshalb würden sie die Schule in der Regel ausgesprochen gut schaffen, so Häreth.

Neues Zuhause im Campus

Auch Matiullah hilft nach der Schule schon seinen Mitbewohnern bei den Hausaufgaben. Im Campus Bad Kissingen leben sie in einer Wohngruppe von zwölf Jugendlichen, bis sie volljährig werden. Hannes Schnabel, von der Abteilung Jugendhilfe des Campus, ist ihr Betreuer - sozusagen Eltern-Ersatz, "wobei es natürlich schwierig ist, den psychologisch-emotionalen Teil zu ersetzen", sagt er. Seine Aufgaben sind neben der Beherbergung und Verpflegung vor allem Hilfe zur Selbsthilfe. Das heißt zum Beispiel Geld zum selber Einkaufen, Hilfe beim Lernen lernen, Ratschläge beim Putzen und Waschen: "Wenn es noch an den Sprachkenntnissen hapert, kann es schon mal passieren, dass mit Spülmittel das Klo geputzt wird - oder umgekehrt", schmunzelt er. Die Jugendlichen sind im Schnitt ein bis zwei Jahre im Campus, "ein Art Turbo-Jugendhilfe", sagt der Sozialpädagoge, bis sie mit 18 Jahren in eine Flüchtlingsunterkunft oder eine eigene Wohnung können. Zusammen mit Jugendamt und ihrem gesetzlichen Vertreter, dem Vormund, ist die Jugendhilfe einer der wichtigsten Ansprechpartner für die unbegleiteten Jugendlichen. Und natürlich die Schule, zu der wöchentlich Kontakt besteht.

Belastende Erlebnisse

Was die jungen Menschen in ihrem Heimatland oder auf der Flucht erlebt haben, ist oft nur schwer zu erfahren: "Manche erzählen schon mal von sich aus, zum Beispiel von ihren schlechten Erfahrungen in Durchgangsländern. Aber wir möchten nichts aufwühlen, was weh tut", erklärt Klaus Neumeyer. Hannes Schnabel ergänzt: "Man merkt schon, wenn ein Thema die Jugendlichen stark belastet, zum Beispiel als die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben - das hat Matiullah schon sehr mitgenommen, weil er nicht weiß, wo seine Eltern sind." Manchmal gäbe es zwischen den Nationalitäten auch eine leichte Konkurrenzstimmung, nach dem Motto: "bei uns ist es schon viel länger so schlimm wie bei euch", erklärt Schnabel, "aber nicht in einer aggressiven Weise".

Glücklich hier

Ihre Freizeit verbringen Matiullah und Hussein ähnlich wie andere Teenager: Freunde treffen, Sport machen oder am Computer tüfteln. "Schön ist es, wenn die Jugendlichen abends gemeinsam zusammen sitzen und Tee trinken oder gemeinsam kochen", erzählt Schnabel, "Manchmal dauert es dann bis geklärt ist, wer spült, aber das ist uns lieber, als wenn sie auf der Straße rumhängen".

Matiullah ist hier sehr glücklich und auch Hussein sagt begeistert: "Es geht mir sehr, sehr gut hier." Er habe viel Respekt vor seinem Betreuer und der Heimleitung des Campus, "sie sind wie Mama und Papa zu mir. Sie haben ein gutes Herz!" Beide würden am liebsten hier bleiben, weiterhin Deutsch lernen und eine Ausbildung machen. Aber noch nicht heiraten, wie es in ihrem Alter oft zu Hause der Fall ist: "Meine Mutter hat gesagt, erst mit 30 Jahren darfst Du heiraten", lacht Hussein.

Jugendhilfeeinrichtungen:

Im Landkreis Bad Kissingen gibt es zwei stationäre Jugendhilfeeinrichtungen, in Münnerstadt und in Bad Kissingen , mit insgesamt knapp 30 Plätzen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Beide sind zurzeit voll belegt.

Unterfranken hat insgesamt 101 Plätze für minderjährige Flüchtlinge - nur noch wenige Plätze davon sind frei.

Momentan leben laut Landratsamt 29 unbegleitete Flüchtlinge im Landkreis Bad Kissingen im Alter von 15 bis 18 Jahren. Die meisten stammen aus Afghanistan, Syrien und der Ukraine.

Für unbegleitete, minderjährige Mädchen gibt es separate stationäre Jugendhilfe-Einrichtungen, allerdings nicht im Landkreis Bad Kissingen .

 
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