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Bad Kissingen
Alkoholsucht: Frauen trinken häufig heimlich
Funktionieren. Zurückstecken. Nicht aus der Rolle fallen. Eine Frau aus dem Kreis Bad Kissingen erzählt, wie es sich anfühlt, wenn Wein zum Ventil wird.
Symbolfoto: Fotolia Grafik: Micho Haller       -  Symbolfoto: Fotolia Grafik: Micho Haller
| Symbolfoto: Fotolia Grafik: Micho Haller
Carmen Schmitt
 |  aktualisiert: 19.08.2022 14:25 Uhr
Ihren Tiefpunkt hatte Johanna R. mit 48. Damals nahm sie ihre dritte Flasche Wein abends vom Sofa mit ans Bett. Die Kisten mit dem Leergut stapelte sie in ihren Kofferraum, nur wenn es draußen dunkel war. Ihre Enkelkinder durfte sie nicht sehen. Von ihrem Selbstwertgefühl war nicht mehr viel übrig. Bis Johanna R. zusammenbrach. Heute ekelt sie der Geruch von Wein an. Im Bierzelt stößt sie jetzt mit einer Johannisbeerschorle statt einem Weizenbier an. Johanna R. ist trockene Alkoholikerin. Ihren Namen will die Frau aus dem Landkreis nicht in der Zeitung lesen. Sie sei immer noch die Alte, erzählt sie. Inzwischen gehe sie aber anders mit sich um.

Dass sie ein etwas anderes Verhältnis zu Schoppen, Radler und Co. hat, war ihr unterbewusst schon klar. Johanna R. war ein Nachzügler. Nicht ihre Eltern, sondern ihre vier älteren Geschwister kümmerten sich um sie. Suchtmittel waren in der Familie nichts Ungewöhnliches: Die Mutter schluckte Tabletten, der Vater hing am Alkohol. Aber an diesem Tag, es war ihr 40. Geburtstag, dachte sie zum ersten Mal wirklich darüber nach: Zum Frühstück hatte sie eine Flasche Sekt geköpft. Damit sie in die Gänge kommt. Kinder, Haus, Arbeit, Mann. Immer zurückstecken. Immer funktionieren, durchhalten. Anstrengend war das, erzählt sie. Der Alkohol - die Belohnung.

Beim Kochen, nach einem stressigen Tag, um runterzukommen, nach einem Streit mit ihrem Ehemann. Widerworte gab sie nur mit einem Wein intus. Ihr Mann ging fremd, sie hatte die Schuldgefühle. Überhaupt hatte sie ständig Schuldgefühle. Vor allem dann, als die leeren Flaschen immer mehr wurden. Der Trost: noch mehr leere Flaschen. Ein Teufelskreis.


Betrunken ans Steuer

Im Haushalt schafft sie gerade das Nötigste. An schlechten Tagen genehmigt sie sich den ersten Schoppen noch vor dem Dienst. Einen Piccolo auf dem Weg dorthin. Die drei Kilometer bis zur Arbeit lenkt das Auto ganz automatisch, erzählt sie. Peinlich sei ihr das heute, sieben Jahre später. Es geht immer gut - fast. Einmal setzt sie ihren Wagen in den Graben. Zwei Promille. Verletzt wird niemand. Auto Schrott, Führerschein weg. Antreten zur Suchtberatung. Sie lernt Silvia Herrmann kennen, die Leiterin der Sucht-Beratungsstelle des Caritasverbands.


Problem verdrängt

"Ich bin kein Alkoholiker", dachte sie damals. Sich mal ein Gläschen gönnen? Das ist noch keine Sucht. Kurz vor der Scheidung starb ihr Ehemann. Herzinfarkt. Eine Erlösung. Die Kinder erwachsen und aus dem Haus. Johanna R. allein. Dann das Loch. Überflüssig hatte sie sich gefühlt, erzählt sie. Die ersten Gespräche mit Silvia Herrmann helfen. Die Sozialpädagogin baut sie auf. Gleichzeitig lernt Johanna R. einen neuen Mann kennen und bekommt ihren Führerschein zurück, rührt keinen Alkohol mehr an. Eineinhalb Jahre lang. Dann der erste Schluck Wein. Eine Flasche. Zwei. Rückfall: "Jeder Gedanke hat sich um Alkohol gedreht."

Johanna R. spricht ruhig. Sie sitzt bequem auf dem Stuhl in dem Besprechungsraum der Caritas. Ihr gegenüber Silvia Herrmann. Früher hat sie der Gedanke kribbelig gemacht: Ist genug fürs Wochenende da? Im Notfall zur Tanke. Das Be- und Entsorgen - purer Stress. Parkt ein Bekannter vor dem Supermarkt? Ist sie am Container unbeobachtet? "Es ging nicht ohne, ich wäre zerplatzt." Auf der Arbeit merkt keiner etwas. Ihre Schwester spricht sie auf die vielen Flaschen an. Sie kommt nicht an ihre Johanna heran. "Sie selbst war ihr härtester Gegner", sagt Silvia Hartmann. "Und so stur." Die beiden Frauen lachen. Seit vier Jahren kann Johanna R. das wieder. 16 Wochen hat sie darum gekämpft.


Gerettet - im letzten Moment

"Sie konnte mir fast nicht in die Augen schauen, so hat sie sich geschämt", erzählt Silvia Herrmann. Nachdem die Beziehung in die Brüche ging, war das Loch für Johanna R. noch größer. Alles von vorn. Es war Ende Oktober, als ein Notarzt ihr das Leben rettet. Johanna R. - wieder allein. Alte Konflikte mit ihrem Sohn werden krasser. Feuer für ihren Frust. Die Frau schließt sich ein, betäubt sich mit Schnaps. "In dem Moment war mir alles egal. Wenn mich nicht jemand gefunden hätte, wäre ich nicht mehr da." Es hat sie jemand gefunden. Johanna R. beginnt eine Therapie.
Reden, zuhören, lachen, weinen: In den Gesprächen befreit sie sich von der Schuld. Harte Arbeit für die belastete Frau. Danach erkennt sie sich selbst nicht wieder: "Ich konnte ja lustig sein." Johanna R. weiß jetzt, was ihr guttut und kümmert sich um sich selbst. Was sie tun würde, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte?

"Nicht so lange warten; Hilfe annehmen, wenn man ein Problem hat." Ihr Arbeitgeber gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Die Freundinnen stellten keine dummen Fragen, stehen zu ihr. "Nicht selbstverständlich", sagt Silvia Herrmann. Früher hatte Johanna R. tief liegende Augen, war in sich zusammengesunken. "Jetzt hat sie eine ganz andere Ausstrahlung und ist vital", sagt Silvia Herrmann stolz. Komplimente wie diese geben ihr Kraft. "Das Leben ist so schön ohne Alkohol." Sie verpasst keines der monatlichen Treffen der Selbsthilfegruppe. Mit Alkohol hat sie weiterhin jeden Tag zu tun. Sie arbeitet in der Gastronomie, schenkt Wein und Bier aus, aber nicht mehr an sich. "Ich will einfach nicht mehr dahin kommen, wo ich war."

Heute kann es Johanna R. genießen, allein zu sein. Am liebsten aber hat sie ihre fünf Enkel um sich. Dass sie für die wieder eine Oma sein kann, sei ihr größtes Glück.
 
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