"Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist." Diesen Satz veröffentlichte Johann Wolfgang von Goethe 1826 im 5. Band der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Über Kunst und Altertum". Das klingt, als wäre es sehr lange her. Aber der Eindruck ändert sich, wenn man bedenkt, dass es Goethes Zeitgenossen waren, die 1845, also keine 20 Jahre später, im Alten Kissinger Rathaus einen Verein gründeten, der heute noch Bestand hat: den Männergesangverein Liedertafel Kissingen. Allerdings heißt er heute Sängervereinigung Bad Kissingen und ist auch kein "sortenreiner" Männergesangverein mehr. Schon 1867, also geradezu sensationell früh, durften die ersten Frauen mitsingen.
Natürlich hätte der Verein 2020 gerne sein 175-jähriges Bestehen gefeiert, aber die Coronapandemie machte dem einen Strich durch die Rechnung. So hieß es warten, bis die Verhältnisse das Feiern wieder erlaubten. Und so musste auch ein Ereignis warten, das die Feierlichkeiten krönen sollte: die Herausgabe der "Chronik 1845 - 2020: Von der Liedertafel bis zur Kissinger Sängervereinigung". Jetzt wurde das 240 Seiten starke und ein halbes Kilo (503 Gramm) schwere broschierte Buch bei einem kleinen Festakt in der Städtischen Musikschule der Öffentlichkeit vorgestellt.
Würdigung der Ehrenmitglieder
Vorsitzender Sven Steinbach, der die Gäste begrüßte, begründete mit Goethe den Sinn und Wert einer Chronik. Die Arbeit lohne sich durchaus. Es habe in den 175 Jahren schöne und schwierige Zeiten gegeben, die bis heute fortwirkten. Die Geschichte des Vereins habe immer in engem Zusammenhang mit der Geschichte der Stadt gestanden. Steinbach würdigte "die Idee unseres emsigen Schriftführers Carsten Ahlers", diese Geschichte mit ihren Bezügen dargestellt und festgehalten zu haben.
Steinbach nutzte die Gelegenheit, die drei ältesten Ehrenmitglieder und Vorstandsmitglieder des Vereins zu würdigen: Maria Holzbauer (95) war 30 Jahre Schatzmeisterin des Vereins und "seine Seele". Hans Wehner (94), seit 70 Jahren Mitglied im Verein, war in verschiedenen Funktionen tätig.
Und Leonhard Hümmer (81) - er war zu der Feier gekommen und konnte seine Urkunde für 50 Jahre Mitgliedschaft entgegen nehmen - war nicht nur mehrere Jahre Vorsitzender, sondern beschaffte 1987 auch die aktuelle Fahne des Vereins, rief die Flohmärkte ins Leben und trat bei den Adventsfeiern gerne als Nikolaus auf. Er erzählte, dass er sich immer gerne seine umfangreiche Datenträgersammlung von Bildern und Filmen von den Vereinsaktivitäten anschaut. Jetzt sollen Wege gefunden werden, diese Sammlung für das Vereinsarchiv zugänglich zu machen.
Die beiden Stadträtinnen Christina Scheit und Nikola Renner als Stadtratsbeauftragte für Kultur überbrachten die Grüße und Glückwünsche der Stadt und würdigten die Verankerung des Chores im städtischen Leben. Das Jubiläum bedeute 175 Jahre Begeisterung und Verbundenheit. "In der Coronazeit haben wir erfahren, was wir schmerzlich vermissen."
Carsten Ahlers stellte sein neues Werk in seinen Inhalten und Strukturen vor. Die klare Gliederung macht den Umgang verhältnismäßig einfach, obwohl der Werdegang des Vereins alles andere als geradlinig war, denn es kam immer wieder zu Fusionen. Den heute vertrauten Namen "Kissinger Sängervereinigung" gibt es erst seit 1972. Nach einer Beschreibung der aktuellen Situation des Chores und seiner Untergruppen folg die umfangreiche historische Darstellung in acht prägenden Zeitabschnitten bis 2020. Wobei Ahlers diese Abschnitte sehr leserfreundlich gemacht hat, indem er für jedes einzelne Jahr ein eigenes, überschaubares Kapitel angelegt hat und die Inhalte standardisiert hat. In jedem dieser Kapitel finden sich Angaben zu Mitgliederzahlen, aktiven Sängerinnen und Sängern, Vorstandsmitgliedern und Chorleitern , zu öfter wechselnden Probenlokalen, zu Veranstaltungen und besonderen Ereignissen.
Ein komplexes Lexikon
Und da die Sängervereinigung ja nicht im luftleeren Raum agiert, finden sich immer wieder Hinweise auf die deutsche und internationale Politik in diesen Jahren. Und sogar gelegentlich auf das Kissinger Kinoprogramm. Auch sie stellen Beziehungen zum Leser her, die die Lektüre spannend machen. Und am Ende finden sich Kurzbiographien der Ehrenmitglieder, Vorsitzenden und Dirigenten. Oder auch eine Übersicht über die Auslandsreisen des Chores.
Herausgekommen ist kein Buch, das man sich schnappt und mit dem man im hinteren Eck der Ofenbank verschwindet. Und erst wieder auftaucht, wenn man es ausgelesen hat. Dazu steht einfach zu viel drin. Es ist ein komplexes Lexikon der Kissinger Sängervereinigung geworden, in dem man immer wieder gerne blättert, weil man sehr viele persönliche Bezüge herstellen und eigene Erinnerungen wachrufen kann. Aber natürlich kann man sich dabei auch mal so richtig festlesen.
Eine Reihe Schuhkartonarchive
Zwei Jahre intensiver Feierabend- und Wochenendarbeit liegen hinter Carsten Ahlers. Obwohl er nicht ganz bei Nullanfangen musste. Es gab bereits ansatzweise Chroniken von Paul Lang (1895), Johann Brennecke (1945/46) und Leonhard Hümmer (1995). Und er bekam auch Unterstützung vom Stadtarchiv, Sängerbundarchiv und anderen Institutionen; und von privaten Gesinnungsgenossen, die bei der Recherche halfen. Eine Sache für sich war schon die Sichtung und Sortierung von einer ganzen Reihe von "Schuhkartonarchiven" aus allen Himmelsrichtungen, die eine Helfergruppe sichtete, sortierte und chronologisch in die richtige Reihenfolge brachte. Dann wurde jedes Blatt in eine Plastikhülle gepackt, beschriftet und sinnstiftend abgeheftet. Zumindest diese Arbeit kann sich Carsten Ahlers bei der nächsten Chronik sparen. Die Jahre 2021 und 2022 sind bereits ordentlich fortgeschrieben und gesichert.
Klar, dass der Gemischte Chor der Sängervereinigung unter Leitung von Hermann Freibott die Buchvorstellung mit einigen passenden Liedern würzte wie "Wir lieben sehr im Herzen" oder "Sou a Schöppla Frankawei". Sie war ja auch ein Grund zum Anstoßen. Erhältlich ist die Chronik im Eigenvertrieb über die Kanzlei Ahlers & Partner, Tel.: 0971/785 955 16 zum Selbstkostenpreis von zehn Euro.