
Die historische Bedeutung seines unerwarteten Auftrags für die Welt der Kirchenmusik konnte Bad Kissingens Kirchenmusikdirektor nicht erahnen, als ihn Sennfelds Bürgermeister Emil Heinemann im Jahr 2019 um die Begutachtung handgeschriebenen Notenmaterials aus den Jahren 1788 bis 1812 bat. Nach 1000 Arbeitsstunden des Sichtens, Prüfens und Sortierens hatte Wöltche, der als Dekanatskantor der Evangelischen Kirche Schweinfurt alle Dekanatsgemeinden in musikalischen Fragen berät, den historischen Fund aus 149 Kirchenkantaten und Lutherischen Messen für evangelische Gottesdienste sowie 31 Motetten auf etwa 8500 handgeschriebenen Seiten aufgelistet - alle komponiert von dem aus Gochsheim stammenden Sennfelder Dorfschullehrer Johann Leonhardt Ludwig.
"Ein so umfangreicher Fund evangelischer Kirchenmusik in katholischem Umfeld ist äußerst selten", betont Wöltche. Vor ihm auf dem großen Tisch sind zehn große, aber unscheinbar wirkende Archivkartons gestapelt. In ihnen ist das historische Notenmaterial - davon allein 3100 Seiten als vollständige Partituren - wiederum in einzelnen Mappen gebündelt. Die Kartons werden in diesen Tagen der Staatsbibliothek in München übergeben. Dortige Fachleute werden das Material in den nächsten Jahren nach und nach für die internationale Einsicht vollständig katalogisieren. "Diese Musik muss unbedingt wieder aufgeführt werden", wünscht sich Wöltche für die Zukunft.
Schwer lesbare altdeutsche Schrift
Wöltche kann von sich behaupten, bisher als Einziger wirklich jedes einzelne Notenblatt mindestens einmal in der Hand gehabt zu haben. Zwar hatten die Sennfelder Archivare schon in Vorjahren einen Blick in den umfangreichen Fund gewagt und die ersten, deutlich lesbaren Titel gelistet. Doch erst Wöltche schaffte es mit gelegentlicher Unterstützung von Dr. Gottfried Heinz-Kronberger (Staatsbibliothek München), die nur schwer lesbare altdeutsche Schrift der Liedtexte zu entziffern und nach mühevoller Kleinarbeit die Liste aller 180 Musikstücke abzuschließen.
"Ich bin ein Partitur-Leser, der schon beim Lesen der Noten sofort hört, wie die Musik klingt", ist der Dekanatskantor von der Notensammlung begeistert. Gleich als Erstes nahm er sich die vollständig erhaltene 24-seitige Partitur der Sennfelder Friedenskantate vor, die Leonhardt Ludwig im Jahr 1795 anlässlich des Friedensfestes zum Gedenken des Kriegsendes von 1648 komponiert hatte.
"Diese Noten habe ich sofort in moderne Notenschrift umgeschrieben und die Liedtexte aus der alten Schrift übertragen, damit sie heutige Sänger lesen und singen können." Dieses historische Werk soll nun beim Kissinger Sommer 2023 seine Wiederaufführung erleben - also 375 Jahre nach Ende des Dreißigjährigen Krieges.
Nach dieser ersten Arbeit nahm sich Wöltche das älteste Musikstück der Sammlung vor: eine Kantate aus dem Jahr 1788. Danach folgten Blatt für Blatt, Seite für Seite alle anderen Kompositionen. "Ich wollte immer wissen, wie es klingt", beschreibt der Kantor seine Neugierde und kam zum Ergebnis, dass die Kompositionen zum Teil sehr anspruchsvoll sind. "Das singt ein Dorfchor nicht so einfach vom Blatt. Das muss man richtig üben."
Leben des Komponisten erforschen
Nach Begutachtung der historischen Notensammlung empfahl Wöltche den Sennfeldern, das Leben dieses völlig unbekannten Dorfschullehrers und Komponisten zu erforschen. Inzwischen fand Heimatforscher Douglas Dashwood-Howard heraus, dass der in Gochsheim geborene Leonhardt Ludwig keine höhere Schule besucht hatte, aber von seinem Pfarrer als musikalisches Talent gefördert worden war. Es wurde auch bekannt, dass Ludwig außer Orgel und Klavier - dies hatte er bereits als 16-Jähriger im Augustinerchorherrenstift im Kloster Heidenfeld erlernt - auch Violine, Klarinette, Trompete, Waldhorn und Tuba spielte und zudem eine gute Tenorstimme hatte.
Als Dorfschullehrer bildete er sich im Austausch mit Kollegen und durch die Lektüre von Fachbüchern weiter und komponierte fortan für seine evangelische Kirchengemeinde die Musik - oft auch im Auftrag von Einwohnern zu Hochzeiten oder Beerdigungen, wie aus einzelnen Widmungen hervorgeht.
Schon frühzeitig hatte Wöltche nicht nur die Staatsbibliothek München auf die Bedeutung des historischen Notenfundes aufmerksam gemacht. Auch das Mozarteum in Salzburg ist an einer bestimmten Partitur besonders interessiert.
"Ich werde alles Menschenmögliche dafür tun, diese Musik wieder zum Klingen zu bringen", hat sich Bad Kissingens Kirchenmusikdirektor nun vorgenommen. "Diese Musik ist hier in dieser Region entstanden. Sie muss auch hier gespielt werden."