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NIEDERWERRN
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Bewachter Parkplatz: Am Pfingstwochenende trafen sich an die hundert Wohnmobilfreunde aus ganz Deutschland in Niederwerrn.
Foto: Uwe Eichler | Bewachter Parkplatz: Am Pfingstwochenende trafen sich an die hundert Wohnmobilfreunde aus ganz Deutschland in Niederwerrn.
Uwe Eichler
 |  aktualisiert: 16.12.2020 11:45 Uhr

Es gibt an diesem Samstagnachmittag nur ein großes Thema beim „Euro Motorhome Club“, dem EMHC, auf dem Festplatz an der Wern – außer Wohnmobilen natürlich. Beim Jahrestreffen laufen „drinnen“ die Spiele der ersten Fußballbundesliga, im Abstiegskampf. Entsprechend sind nur wenige Klappstühle besetzt.

Zum dritten Mal weilt der EMHC im Raum Schweinfurt, benannt nach dem englischen Namen der motorisierten Eigenheime. 49 fahrbare Wohnzimmer stehen auf dem Platz, mit 96 Besuchern aus ganz Deutschland, von München bis Hamburg. Dass der Festplatz vier Tage lang dem Wohnmobil-Mekka Niederwerrn als Karawanserei dient, geht auf Gerhard Reisch zurück: Der Niederwerrner ist Reise-, Messe- und Veranstaltungsbeauftragter im 1977 gegründeten Caravan-Verein, dessen Geschäftsstelle sich bei Pfaffenhofen befindet. Reisch, bekannt vom Dramatischen Verein Niederwerrn (DVN), von den Schweinfurter Wohnmobilfreunden und als Zugmarschall bei der Eskage, residiert in einem Concorde Liner gleich im Eingangsbereich, wo er unter einem ausziehbaren Vordach die Rezeption übernimmt – ganz entspannt.

„Es ist ein schönes Fahren“, schwärmt der 76-Jährige von seinem neun Meter langen Gefährt, das außer der Familie noch ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit transportiert: „Was das besonders Schöne ist, wenn man müde wird, braucht man kein Hotel.“ Auch Ehefrau Maria ist bei den Ausfahrten mit von der Partie, das Reisemobil das Vierte in Folge.

In Niederwerrn haben die Gastgeber fürs passende Animationsprogramm gesorgt: Im Gemeindezentrum spielt eine Big Band, der DVN macht „Theater“, es geht nach Schweinfurt, zur Weinprobe nach Obereisenheim oder auf eine Radtour. Bei der offiziellen Jahresversammlung gibt es wenig Überraschungen, am Ende wird das Team um Präsident Rüdiger Zipper bestätigt. Gerhard Reisch bleibt der „Reiseminister“ des Clubs, der sogar über eine eigene Zeitschrift verfügt.

Der gebürtige Frankfurter, ein gelernter Bäcker, arbeitet seit Jahrzehnten für die Freizeitbranche und hat damit das Hobby zum Beruf gemacht. Los ging es an einem See in Hessen mit einer Zeltplane, die er und seine beiden Freunde von den Amerikanern geschenkt bekommen hatten. Heute gilt er bei Messen als „Urgestein der Zubehörszene“, egal ob es um Campingkocher oder -Heizungen geht. Seine Servicesäulen zur Versorgung mit Strom und Wasser oder der Entsorgung von Abwasser sorgen deutschlandweit für Erleichterung – für diese „Meilensteine“ gab es renommierte Preise.

Auf 52 Caravan-Salons hat es der rührige Wahlniederwerrner gebracht, außerdem auf zahlreiche Ausflüge im Konvoi durch Europa und bis nach Schweden. Außer einem Zwischenfall auf einer Fähre, als sich die Automatik selbstständig gemacht hat, ist wenig passiert.

Ganz billig oder verbrauchsarm sind die Groß-Fahrzeuge nicht. Kein Wunder, dass vor allem die ältere Generation am Steuer sitzt: „Der Nachwuchs ist ein Problem.“ Dafür hat sein busähnliches Wohnmobil Dusche, Küche, Warmwasser, eine geräumige Bettstatt, Zerhacker-Toilette, zwei Fernseher, große Batterien und Lichtmaschine, Solarpaneele sorgen für zusätzliche Energie. Allein der Gepäckraum ist geräumiger als mancher Kleinwagen: „Man hat schon Platz, dafür gibt es aber schnell Probleme mit der Überladung.“

Mit einem Dreier-Führerschein dürfen Veteranen, unter den strengen Augen der Polizei, bis zu 7,5 Tonnen bewegen. Für Notfälle gibt es einen Schnellablass. Der EMHC betreibt vor allem rechtliche Lobbyarbeit, egal ob es um strenge Überhol- oder Führerscheinregelungen geht. Letztere schränken vor allem Jüngere bei den Tonnagen ein.

An der Jahnstraße sind sie alle versammelt: Vom Kleinmobil bis zum funkelnagelneuen Zehn-Meter-Riesen einer Familie aus Oldenburg, der noch einen Anhänger für Oldtimer zieht. Das Innere erinnert mehr an ein nobles Hotelzimmer als an die U-Boot-Romantik früher Jahre.

„Slide Out“ nennt sich dann ein amerikanisches Verfahren, bei der sich zusätzlicher Wohnraum seitlich ausfahren lässt, Modell Schublade. Aus den Staaten, das von seinen Bewohnern seit jeher Mobilität verlangt, kam schon vor 100 Jahren der Anschub für die Wohnmobilszene. Allerdings waren die Deutschen früh vorne in der Freizeitwelt dabei, weiß Reisch: Federführend die Allgäuer Firma Dethleffs. „Die hat ursprünglich Peitschen und Skistöcke hergestellt.“

1931 konstruierte Arist Dethleff das erste „Wohnauto“, da er Frau und Tochter mit auf Geschäftsreisen nehmen wollte. Ehefrau Fridel, einer Malerin, schwebte ein fahrbares Atelier und ein moderner „Zigeunerwagen“ für den Peitschenfabrikanten vor. Schon vor dem Krieg gab es spartanisch eingerichtete Wohnwägen Marke „Tourist“. Auch Rommels Afrikakorps nutzte solche Anhänger, in Feldgrau. Das Wirtschaftswunder sorgte dann für den großen Camping-Boom, mittlerweile gehört Dethleffs zur Hymergruppe.

Der schwäbische Flugzeug-Tüftler Erwin Hymer prägte zusammen mit Ex-Raketenbau-Pionier Erich Bachem die Nachkriegsszene mit windschnittigen Wohnmobilen. 400 000 Reisemobile sind derzeit in Deutschland gemeldet. Heute akzeptiert die Branche kaum noch technische Grenzen. Die endgültig autarken „Space Exploration Vehicles“, die im Auftrag der Nasa in Wüsten erprobt werden, sollen mal als Astronauten-Wohnmobile über Mars oder Mond kurven.

Zur Häckerbrotzeit in den Obereisenheimer Höllenkeller geht es allerdings ganz konservativ mit dem Bus. Die Besucher, die dazu von ihren Fernsehern, weg vom Fußball, auf den Festplatz strömen, sind mehr als zufrieden mit der Oase mitten in Mainfranken, wegen der Versorgung, aber auch der guten Verkehrsanbindung. Ein Hamburger hat ganz besonderen Grund zur Freude: „Der HSV geht in die Relegation.“

 
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