"Heute habe ich mich wiegen lassen“, schreibt die 20-jährige Würzburgerin Maria Gümbel am 4. Dezember 1914 ihrem Mann Adelbert nach Nordfrankreich. Das Weihnachtsfest steht vor der Tür, es könnte das erste gemeinsame Fest für Maria, Adelbert und ihren sieben Monate alten Sohn Wilhelm sein. Doch der Mann ist im Krieg und sie weiß nicht, wann er zurückkommen wird und ob er überhaupt noch lebt.
Die junge Frau ist verzweifelt und verfällt immer mehr. „Ich wiege 103,5 Pfund“, steht in dem Brief. „Wenn ich die Kleider wegrechne, da bleibt nicht mehr viel.“ „Ich werde immer schwächer; wenn ich auf die Straße gehe, friert mich jederzeit“, schreibt sie einen Tag später. „Ich bin schon verwirrt, ich kann nimmer.“
Bis Weihnachten sollte der Krieg siegreich beendet sein. Das ist den Deutschen eingeredet worden, als Millionen Soldaten Anfang August 1914 mit klingendem Spiel auszogen. Im Dezember ist klar, dass der Plan, Frankreich schnell zu besiegen und dann alle Kräfte gegen Russland einzusetzen, gescheitert ist.
Inzwischen sitzen die Soldaten in Nordfrankreich und Flandern, berüchtigt für seinen Dauerregen, in Schützengräben und warten auf den Befehl zum nächsten Angriff auf die Feinde, meist Engländer, die hinter Stacheldrahtverhauen in Sichtweite warten. Auch sie wären lieber daheim, doch zuerst gilt es, die „Hunnen“ zu besiegen.
Das emotionale Chaos der jungen Frau, noch verstärkt durch eine Krankheit des Babys, verblasst gegen die sehr realen Schreckensszenerien an der Front. Zehntausende Franzosen und Belgier sind aus ihren Häusern vertrieben worden, viele Orte liegen in Trümmern.
Die deutschen Truppen haben in den ersten Monaten des Krieges gewütet und sich zum Teil zu völkerrechtswidrigen Racheaktionen, bis zur Zerstörung ganzer Ortschaften und der Erschießung ihrer Bewohner, hinreißen lassen. Der Propaganda der Gegner, die sie zu blutrünstigen Hunnen macht, liefern sie so Material im Überfluss.
Marias Mann, der 27-jährige Sanitätsfeldwebel Adelbert Gümbel, hat auf seinem Vormarsch im Dorf Dalhain die Folgen einer der exzessiven deutschen Maßnahmen gesehen und Maria davon geschrieben: „Außer einer alten Frau, die in einem Trümmerwinkel sich einen wohnungsartigen Raum eingerichtet hat, war kein Lebewesen zu erblicken. Männer, Frauen, Kinder und Greise lagen unter Schutt und Asche begraben.“ Das war im August. Im November ist Gümbel in der von Würzburger Truppen besetzten französisch-belgischen Grenzstadt Comines, 15 Kilometer von Ypern entfernt, stationiert. Auch hier sieht er erschütternde Szenen, die er seiner Frau am 18. November 1914 schildert: „Viele Kinder gehen von Haus zu Haus, um Brot zu betteln. Auf der Straße steht alle 15 bis 20 Schritte ein kleiner Knirps oder eine arme Frau und verkauft Streichhölzer, Zigarren oder Zigaretten, damit sie etwas Geld zusammenbekommen fürs tägliche Leben.“
In der Nähe von Comines liegt das Dorf Warneton. „Dieser Ort ist fast vollkommen zusammengeschossen“, schreibt Adelbert Gümbel. „Von den meisten Häusern stehen nur noch die Wände, von anderen fehlen Dach und Seitenteile und wieder andere sind zu Trümmerhaufen zusammengestürzt. An vielen Wänden hängen noch Bilder. Geschirr und Einrichtung aber liegen zerstreut umher.“
Gümbel selbst hat es verhältnismäßig gut getroffen; der Schreiber des Divisionsarztes lebt in Comines in der sogenannten Etappe, einige Kilometer hinter der Front. Doch auch hier ist er nicht wirklich sicher, denn gelegentlich beschießen die Franzosen sogar Comines. Maria weiß das. Jeder Tag, an dem kein Feldpostbrief von ihm ankommt, kann seinen Tod bedeuten.
Von Comines aus werden die Frontsoldaten nach kurzen Ruhepausen immer wieder in die schlammigen Schützengräben vor Ypern geschickt. In eisigen Unterständen sitzen sie, Kälte und Wasser, Ratten und Läusen ausgesetzt.
„Die Schützengräben sind stellenweise bis zu einem Meter mit Wasser gefüllt“, notiert der 19-jährige Würzburger Medizinstudent Hans Lewin, einer der Belagerer von Ypern, am 16. Dezember 1914. „Es ist ein geradezu unbeschreibliches Wetter, Sturm und Regen, die Wege sind grundlos, kurz, man würde in Friedenszeiten keinen Hund hinausjagen.“
Im Würzburger Stadtteil Grombühl sieht Maria Gümbel dem herannahenden Weihnachtsfest mit Grauen entgegen. Gerade jetzt sollte ihr Mann bei ihr und dem kleinen Sohn sein. „Ach ich bitte Dich, komm doch bis Weihnachten, denn ich kaufe und mache sonst gar nichts“ schreibt sie ihm nach Comines. „Einen Baum kann ich nicht putzen und dann anschauen; ich habe keine Freude und ich kann es nicht, es tut mir arg viel weh.“
Adelberts beruhigende Worte, immer wieder in Briefen wiederholt, verfehlen ihre Wirkung. „Heute erhielt ich sechs Briefe von Dir“, schreibt Maria, die auch noch Probleme mit dem Stillen hat, am 5. Dezember. „Du schreibst ich soll trinken und essen. Erst können! So wie ich etwas esse, ein bisschen, dann ist’s vorüber. Und esse ich mehr, dann wird mir’s schlecht und ich muss brechen. Das Kopfweh und Stechen im Kopf hört überhaupt nicht mehr auf, das Kind will trinken, das kann ich nicht.“
Und dann formuliert sie in ihrer Verzweiflung eine kaum verhüllte Drohung: „Es ist schlimm genug, es kann aber noch schlimmer werden und ein tolles Ende geben.“
Heute würde man Marias Zustand als Wochenbettdepression erkennen, verstärkt durch die Abwesenheit ihres Mannes und die Ungewissheit über sein Schicksal. Kennzeichen einer solchen Depression sind beispielsweise Kopfschmerzen, Hoffnungslosigkeit und Tötungsgedanken. Die Formulierung „Es kann ein tolles Ende geben“ weist auf solche Gedanken hin.
Weihnachten 1914 ist ein trauriges Fest für die junge Frau und ihr Kind. Ihr Mann dagegen beschreibt, wenig sensibel, in einem Brief an sie drei Feiern, die er in Comines, zusammen mit Kameraden in der Etappe, am Abend des 24. Dezember 1914 nacheinander erlebt.
Alkohol fließt in Strömen. Auch Essen, das der einheimischen Bevölkerung längst fehlt, ist für die Besatzer in dieser Frühphase des Krieges noch im Übermaß vorhanden. Als Gümbel um 2 Uhr morgens in sein Quartier am Marktplatz von Comines kommt, sieht er auf der Straße tanzende Würzburger Soldaten; aus einem Lokal ertönt das Lied „Püppchen, du bist mein Augenstern“.
Der Brief, in dem dies steht, liegt heute, zusammen mit Fotos und Hunderten weiterer Feldpostbriefe des Ehepaars, im Würzburger Staatsarchiv.
Ein paar Kilometer entfernt geschieht an der Front vor Ypern und an anderen Stellen in Frankreich und Belgien an diesem Weihnachtsfest ein Wunder. Der ständige Regen hat aufgehört, einige bayerische Soldaten stellen kleine Christbäume vor die Gräben, singen „Stille Nacht“; plötzlich fallen Briten auf Englisch ein: „Silent Night“.
Deutsche und alliierte Soldaten kommen aus den Gräben heraus und verbrüdern sich spontan. An einer Stelle findet ein gemeinsamer Weihnachtsgottesdienst statt, es werden Geschenke ausgetauscht, ja es soll sogar ein Fußballspiel gegeben haben. An einigen Frontabschnitten handeln Offiziere beider Seiten eine förmliche Feuerpause aus.
Doch die Pause währt nicht lange. Der Weihnachtsfriede wird durch Eingreifen der Vorgesetzten auf beiden Seiten schnell beendet. Bald schießen die Gegner wieder aufeinander – noch fast vier Jahre lang.
Im Juli 1915 kehrt Adelbert Gümbel erstmals nach Würzburg zurück. Später schreibt er, dass er seine Frau beim Wiedersehen am Bahnhof kaum erkannte, weil sie so abgehärmt aussah. Wilhelm, den er zuletzt als dreimonatiges Baby gesehen hat, weigert sich zuerst, die Hand dieses fremden Mannes zu ergreifen.
Der Würzburger Medizinstudent Hans Lewin fällt kurz vor Kriegsende am 23. August 1918.
Noch ein Soldat befindet sich an Weihnachten 1914 vor Ypern: der 25-jährige Adolf Hitler. Er ist dem Regimentsstab zugeteilt, muss nicht in einem schlammigen Graben liegen. Auch viele Angehörige seines Regiments verbrüdern sich in diesen Tagen mit den Feinden, doch er ist schon damals kompromisslos. „Als Weihnachten 1914 viel von einer Verbrüderung mit den Engländern die Rede war, zeigte sich Adolf Hitler als erbitterter Gegner“, schrieb ein Mitglied seines Regiments. „So etwas dürfe jetzt in der Kriegszeit nicht zur Debatte stehen.“
Die Deutschen nahmen Ypern nie ein. Die kleine belgische Stadt wurde im Ersten Weltkrieg total zerstört und danach weitgehend originalgetreu wieder aufgebaut. Als die europäischen Staatschefs im Sommer 2014 an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnerten, taten sie es in Ypern.
- Internet: Der Briefwechsel zwischen Maria und Adelbert Gümbel und weitere Dokumente und Augenzeugenberichte aus den Jahren 1914 und 1944 täglich auf Roland Flades Facebook-Seite „Würzburg vor 70 und 100 Jahren“