Englisches Mobiliar galt lange Zeit als ähnlich schwere Hausmannskost wie das berühmte Gericht „Fish and Chips“. Seit einiger Zeit häufen sich jedoch Stimmen, die nicht mehr die Italiener oder Skandinavier, sondern die die Engländern beim Design weltweit an der Spitze sehen. „Ich möchte mich entschuldigen bei Mailand und Tokyo, ich bitte um Vergebung bei Eindhoven, Berlin, Barcelona und ganz besonders New York“, schrieb etwa die Designexpertin und Autorin Julia Lasky 2012 in der „New York Times“. „Aber das Zentrum der Designwelt ist jetzt London.“
Schon während der Olympischen Spiele 2012 in der Stadt konnte man beobachten, wie wichtig die Engländer das Thema Gestaltung nun nehmen. Der Architekt Thomas Heatherwick durfte den Brenner für das olympische Feuer sowie einen neuen Doppeldeckerbus entwerfen. Das Design-Duo Barber Osgerby war verantwortlich für die Gestaltung der olympischen Fackel. Sie alle entwerfen vornehmlich Möbel und Leuchten. Und sie gehen dabei äußerst ambitioniert ans Werk. Thomas Heatherwick hat für den italienischen Hersteller Magis einen Entwurf für einen Hocker abgeliefert, bei dem man nicht genau weiß, ob es sich dabei überhaupt noch um ein Möbel handelt. Man könnte den futuristischem „Spun Chair“ auch mit einem unbekannten Flugobjekt verwechseln. Edward Barber und Jay Osgerby haben für Flos aus Italien Leuchten und für Classicon aus Deutschland ein Regalsystem entworfen. Auch diese Produkte wirken so modern, als kämen sie direkt aus einen Raumschiff. Der Stuhl „Tip Ton“ für Vitra soll eine neuartige Art zu sitzen befördern. Das Möbel unterstützt das Kippeln am Tisch, was sich eigentlich für einen englischen Gentleman nicht gehört. Der Stuhl fördert so aber die Durchblutung und beugt Verspannungen vor. Solche Entwürfe zeigen, wie fortschrittlich die Designer in London arbeiten. Patrizia Moroso, eine der führende Figuren des italienischen Design, zeigt sich begeistert: „London ist auf so vielfältige Weise heute das gedankliche Zentrum. Viele junge Leute aus der ganzen Welt kommen hierher, weil das Klima so offen ist.“
Moroso bewundert vor allem die Ausbildung in England. Sowohl Heatherwick als auch Barber Osgerby sind Absolventen des Royal College of Art (RCA). Diese Hochschule hat zahlreiche heute weltberühmte Künstler, Designer und Künstler hervorgebracht, darunter Jasper Morrison, David Hockney oder Tony Cragg. Dabei brachte lange niemand Design und England zusammen. Im Gegensatz zu den Skandinaviern haben die Engländer viel später das moderne Wohnen entdeckt. Der Innenarchitekt Terence Conran, ebenfalls RCA-Absolvent, hat den Briten erst einen modernen Wohnstil angetragen. Conran gründete im Jahr 1964 die Einrichtungskette Habitat und wurde damit weltweit erfolgreich. Der Sir der britischen Einrichtungskultur zeigte seinen Landsleuten, wie moderne Einrichtungsstücke das Leben der Menschen viel angenehmer machen können. Heute kaufen die Londoner deswegen ihre Möbel nicht mehr in den Antiquitätenläden auf der Portobello Road. Sie pilgern stattdessen zum Londoner Designfestival Shoreditch Design Triangle (SPC). Einer der Art Direktoren bei Habitat war Tom Dixon. Nach seiner Zeit bei der Kette, die heute in französischem Besitz ist, gründete Dixon 2002 sein eigenes Unternehmen. Dixons Welt erinnert an Jugendstil und Art Deco. In den Formen der Leuchten und Möbel kommt eine gewisse Exzentrik zum Vorschein, die Dixon durchaus als typisch britisch verstehen möchte. Der Gegenpol zu Dixon ist Matthew Hilton. Er ist als Person und in seiner Arbeit sehr bedacht und konzentriert. Sein wichtigstes Material ist Holz, das er voller Respekt behandelt. „Holz ist ein schwieriges Material, das man verstehen muss“, erklärt der Designer. Seine Möbel sind äußerst präzise gearbeitet. Deutlicher als Dixon sieht Hilton seinen Stil in einem globalen Kontext: „Die Welt ist so international, und wir reisen soviel, dass die Einrichtungsstile immer homogener werden“, sagt er. Einer der Hersteller, für die Matthew Hilton arbeitet, ist das bereits 1920 von italienischen Einwanderern gegründete Unternehmen Ercol. Dessen Programm ist in Teilen sehr konservativ. Man kann sich gut vorstellen, dass Mitglieder des Königshauses ihre guten Stuben mit dieser Art Möbel einrichten. Bei der Neuauflage seiner Möbel aus den 50er Jahren - den „Ercol Originals“ - zeigt das Unternehmen allerdings, wie trendbewusst selbst altmodische Briten sein können. Die Sofaserie „Studio Couch“ präsentierte Ercol 2013 in Mailand zusammen mit der Textildesignerin Tamasyn Gambell. Sie entwickelte Bezüge, die farblich fast explodieren.
Eine dazu passende Stuhlserie trägt neonfarbene Verläufe, wie man sie auch aus der Mode kennt. Solche Extravaganzen in einem stockkonservativen Rahmen leisten sich nur die Briten. Weitere wichtige Namen des Designlandes sind Ilse Crawford oder der verstorbene David Collins. Sie sind zwei von unzähligen Inneneinrichtern, die die Szene in London prägten. Spektakulär ist der Showroom von Collins für den britischen Modemacher Alexander McQueen. Vor allem aus solchen Retailprojekten und aus der Gastronomie entstehen in London heute Trends für das Einrichten. Die Konkurrenz der Shops, Hotels, Bars, Restaurants und Clubs ist so groß, das die Unternehmen auch mit der Inneneinrichtung Kunden locken müssen. Man kann, aber muss nicht unbedingt nach London, um viel Geld für teure Designprodukte auszugeben. Die Stadt bietet völlig kostenlos unendlich viel Inspiration.