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Wie wirklich die Wirklichkeit wirklich ist
Würzburg Geht das denn mit rechten Dingen zu? Linien scheinen sich zu bewegen, Dinge zu verschwinden, Perspektiven zu kippen. Ein Würzburger Wahrnehmungsforscher erklärt, warum und wie wir sehen - und wie wirklich die Wirklichkeit wirklich ist.
Beim ersten Hinschauen wirkt die       -  Beim ersten Hinschauen wirkt die
unterste Linie länger als die
darüber liegende. Stellt man sich alle
Linien zusammen als Schnapsglas
vor, wird sie gleich lang.
Foto: REPRO MP | Beim ersten Hinschauen wirkt die unterste Linie länger als die darüber liegende. Stellt man sich alle Linien zusammen als Schnapsglas vor, wird sie gleich lang.
Von Christine Jeske
 |  aktualisiert: 16.12.2020 14:14 Uhr
Sehen ist gar nicht so einfach. "Viele glauben, dass wir dazu nur die Augen öffnen müssen", sagt Rainer Wolf vom Biozentrum der Universität Würzburg. "Die Augen stehen zwar am Anfang des Sehvorgangs. Aber das, was wir um uns herum wahrnehmen, ist ein Konstrukt unseres Hirns. Die wahre Welt ist völlig anders." Sie sei abstrakt und eigentlich nur mit physikalisch-mathematischen Formeln zu beschreiben, erklärt der Wissenschaftler. "All das, was wir sehen, Formen oder Farben, auch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, sind konstruiert, aber keineswegs halluziniert. Es ist ein Welt da. Von ihr machen wir uns ein Modell, und dieses nehmen wir wahr."

Der Biologe, Physiker und Hirnforscher betreibt seit rund 25 Jahren Wahrnehmungsforschung und beschäftigt sich vor allem mit Täuschungen. Bei seinen Forschungen hat er auch längere Blicke auf die bildende Kunst geworfen. Denn Künstler haben "mit ihrer Kreativität, ihrer Freude am Experimentieren, intuitiv Zusammenhänge zwischen ihrer Kunst und der menschlichen Wahrnehmung entdeckt, die Wissenschaftler manchmal erst später verstehen und erklären können." Weil sie dabei oft Opfer von Selbsttäuschungen werden, könnten Hirnforscher manches von Künstlern lernen. Denn "Sinnestäuschungen lassen auf gewisse Grundprinzipien der Wahrnehmung schließen".

Rainer Wolf hat sich Gedanken gemacht, wie einige Kunstwerke "funktionieren" beziehungsweise was hinter bestimmten Effekten steckt. Zum Beispiel, warum Werke der Konkreten Kunst aus der Sammlung Peter C. Ruppert, die im Würzburger Kulturspeicher hängen, beim Betrachten plötzlich zu flimmern beginnen; etwa bei der amerikanischen Künstlerin Bridget Riley. Ein anderes Beispiel, das beim Anschauen irritiert, ist ein Bild von Victor Vasarely: Dort kippt plötzlich die Perspektive.

Bevor Rainer Wolf jedoch in die Tiefen optischer Illusionen vordringt, erklärt er als erstes Grundprinzip des Sehens: "Wir erkennen, was wir kennen, und sehen, was wir zu sehen erwarten." Er zeigt ein Bild mit sechs waagrechten Linien auf weißem Grund. Die unterste scheint dabei etwas länger als die nächsthöhere. Betrachtet man aber die Linien zusammenfassend als Gestalt eines Schnapsglases, wechselt die Wahrnehmung. Die beiden unteren Linien sind sofort gleich lang, als seitliche Begrenzung des vermeintlichen Glases erscheint eine zarte Kontur, und die Fläche zwischen den Linien wirkt etwas dunkler. "Alles, was wir jetzt quasi dazu sehen, sind Wahrnehmungstäuschungen, die das Gehirn dazu erfindet - mit dem Ergebnis, dass wir die neue Gestalt leichter erkennen." Das Gehirn ergänzt also die Wahrnehmung durch gespeichertes Wissen.

Wir sehen auch nur bedingt scharf, nämlich einen "winzig kleinen Bereich des Sehfeldes, bei ausgestrecktem Arm etwa von der Größe des Daumennagels", erläutert Wolf. Der Wissenschaftler nennt ihn "Schärfe-Spot". Dass dabei das gesamte Umfeld unscharf ist, merken wir nicht. Denn der "Schärfe-Spot" bewegt sich zusammen mit den Augen blitzschnell hin und her. Das anvisierte Bild setzt sich in unserem Gehirn deshalb aus vielen kleinen "Augenblicks-Bildern" zusammen.

Das ruhende Auge ist blind

Aber eigentlich sehen wir nur Dinge, die sich bewegen. Das ruhende Auge ist blind! Damit es unbewegte Bilder wahrnehmen kann, zittert es hin und her. "Dabei verschiebt sich die Netzhaut unter dem ruhenden Bild um mehr als 20 Mikrometer", erklärt der Würzburger Wissenschaftler. Es gibt auch Situationen, in denen die feinen Augenbewegungen nicht mehr ausreichen, "um den Sehzellen die nötigen Helligkeitsunterschiede zu liefern, die für eine permanente Wahrnehmung nötig sind". Dieser Effekt wird nach dem Schweizer Arzt und Philosophen Troxler benannt. Er ergibt sich, wenn man ganz ruhig, den Kopf auf die Hände gestützt, einen unscharfen Fleck anstarrt, zum Beispiel einen Papierschnipsel, den man sich vorne seitlich and die Nase klebt. Nach wenigen Sekunden verschwindet er. Dies ist auch der Fall bei so genannten Nachbildern, die relativ zur Netzhaut des Auges ruhen.

Starrt man einige Sekunden auf eine sehr helle und scharf begrenzte Fläche, zum Beispiel auf ein weißes Kreuz in einem schwarzen Quadrat, so "brennt" sich diese Form auf der Netzhaut "ein". Es entsteht ein Nachbild des Kreuzes, das man aber nur für wenige Sekunden im Dunkeln sieht, beispielsweise wenn man die Augen schließt. Blickt man danach auf eine gleichmäßig helle Fläche, dann erscheint das Kreuz wieder für wenige Momente, allerdings als Negativ, also nicht weiß, sondern schwarz.

Solche Nachbilder bringen Bilder zum Flimmern, zum Beispiel die feinen wellenförmigen Linien in Bridget Rileys Op-Art-Werk "K'hai ho" im Würzburger Kulturspeicher. Die hellen Streifen werden auf der hin und her zitternden Netzhaut als Nachbilder "eingebrannt", und diese überlagern sich beim Hinsehen ständig mit dem Bild, das im Auge neu einläuft. Ergebnis: Dem Betrachter wird schwindlig. Um nicht selbst darunter zu leiden, habe die Künstlerin die Bildteile, an denen sie gerade nicht malte, abgedeckt, erläutert Rainer Wolf.

Bridget Riley spielt in 'K'hai       -  Bridget Riley spielt in 'K'hai ho' mit der Unzulänglichkeit menschlicher Wahrnehmung (zu sehen im Kulturspeicher).
Foto: FOTO KARSTEN SCHUBERT, LONDON | Bridget Riley spielt in "K'hai ho" mit der Unzulänglichkeit menschlicher Wahrnehmung (zu sehen im Kulturspeicher).
 
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