Krapfen! Ich darf die Krapfen nicht vergessen. Krapfen für den einen, Leberkäse für den anderen. Lieblings-Leckereien der Kinder. Die beiden Söhne, 18 und 23 Jahre alt, möchten zwar schon längst nicht mehr „Kinder“ genannt werden, denn sie bewegen sich in ihrem ureigenen Leben außerhalb des Elternhauses. Aber sie können immer noch Mengen vertilgen! Also ist der Einkaufswagen wieder einmal gut gefüllt. Obst, Gemüse, genügend Schinken und Käse, Nutella und ein dicker Brotlaib . . . Entsetzt starre ich auf meine Einkäufe. Ich esse nie Nutella! Und der Vater der Jungen sicher kein ganzes Pfund Leberkäse. Dort, wo mein Mutterherz schlägt, sticht es plötzlich gehörig . . .
Meine Söhne sind vor ein paar Wochen ausgezogen. Beinahe gleichzeitig. Der „Kleine“, jetzt volljährig, in eine WG, der „Große“ zum Studium nach Italien. Trotzdem bin ich wieder meinem gewohnten Einkaufstrott verfallen, automatisch, mit viel Herz, aber ohne Hirn. Daheim schließe ich die Haustür auf, in einer Hand das kleine Netz mit den paar Einkäufen, die übrig geblieben sind, nachdem ich zwei Drittel der zusammengesuchten Waren im Supermarkt wieder zurück in die Regale gestellt habe.
Totenstille. Kein Heavy Metal aus der einen, kein Musicalsong aus der anderen „Kinderzimmertür“. Auch kein lautstarkes Streitgespräch. Und kein Gekichere und Gequietsche mit Freund und Freundin. Nur Stille. Absolute Stille. So, wie ich es mir jahrelang ersehnt habe, wenn wieder einmal von allen Seiten an mir gezerrt worden ist, wenn aus jedem Eck eine andere Frage, und bitte sofort, beantwortet werden sollte.
Der Ehemann und Vater der Söhne findet mich heulend im Sofaeck. Ich habe Spaghetti gekocht, in unglaublichen Dimensionen dampfen sie in der Küche, zugeschnitten auf den hungrigen Bauch zweier Halbwüchsiger, von denen jeder mindestens einen Freund im Schlepptau mit nach Hause gebracht hat. Gut, essen wir halt tagelang Spaghetti aufgewärmt. Wie die letzten Wochen Hamburger. Davor Semmelknödel oder Berge von Kartoffelsalat . . .
Ingrid Ingelmann, Diplom-Psychologin bei der Beratung für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Würzburg, kennt das Problem. „Man denkt, man ist immer noch eine Familie, was ja stimmt. Aber etwas passt nicht mehr“, erläutert sie. Ihr Kollege, Fachreferent und Leiter der Beratungsstelle, Diplom-Psychologe Heinz Rüschstroer fügt hinzu: „Die wenigsten Paare setzen sich ein halbes Jahr vor dem Auszug der Kinder zusammen und stellen sich die Frage, was anders sein wird. Was nun mit ihnen als Eltern und als Paar passiert. Fragen sich gegenseitig: Was möchtest du, was möchte ich?“
Beide wissen aus ihren Beratungen, dass viele Elternpaare zunächst überrollt werden von der neuen Situation. Zurückgeworfen sind auf sich selbst. Sie müssen sich neu definieren, stehen wieder da, wo sie Jahre vorher ihre Zweisamkeit begonnen haben. Fragen, was sie noch als Paar verbindet, was noch da ist von früher, ob sie überhaupt noch ein Paar sein wollen, werden zu Lebensfragen.
„Irgendwann wirst du doch kapieren, dass sie weg sind“, moniert der Ehemann sanft und vorsichtig. Und fügt hinzu: „Jetzt machen wir zwei es uns mal richtig gemütlich und schön.“ Aber wie geht das, das sich Es-Schön-und-Gemütlich-Machen? Der Auszug der Kinder schafft eine neue Familien-Konstellation. Kinder als Hauptthema, Tagesorganisation und Terminplanungen fallen aus. Nicht nur der Frau, die in den meisten Fällen die Familie gemanagt hat, bricht etwas weg. „Wir Männer werden auf Unabhängigkeit getrimmt, für Gefühle ist oft kein Platz“, so Rüschstroer. „Da gibt es Väter, die erst nach dem Auszug des Sohnes, der Tochter reflektieren, was sie mit dem Nachwuchs gemacht oder eben nicht gemacht haben. Vätern fällt es oft schwer, zu ihren Gefühlen zu stehen, zu sagen: Ich bin traurig, während Müttern das selbstverständlich von der Zunge geht.“
Nicht selten, so die beiden Fachleute, füllen Eltern die ungewohnte Leere mit Konsum. „Unsere Gesellschaft bietet ja genug an, damit man sie nicht aushalten muss.“ Dabei kann die neue Leere auch eine Chance bieten, Raum für Kreativität freisetzen. Amerikanische Soziologen schufen für diese Leere und die Trauer den Begriff „Empty Nest“-Syndrom (leeres Nest).
„In der Beratung wollen wir Eltern dazu anstoßen, die Leere nicht nur mit Aktionismus zuzuwerfen, sondern zu erspüren, was sich verändert hat. Wir ermuntern sie, ihre Gefühle auszusprechen, sich gegenseitig in den Arm zu nehmen und zu trösten“, so die Psychologen. Ein ehrlicher Austausch mit den Kindern, in dem die neue Situation und die damit einhergehenden Gefühle angesprochen werden, kann beginnen, praktische Hilfen, zum Beispiel beim Umzug, können angeboten werden. Auch wenn Väter und Mütter traurig sind, können sie stolz darauf sein, dass ihre Kinder die Ablösung vom Elternhaus gut meistern. „Schließlich haben sie eine sinnvolle Arbeit geleistet.“
Ingrid Ingelmann und Heinz Rüschstroer weisen darauf hin, dass in der Situation des Umbruchs ein Erfahrungsaustausch mit Paaren wertvoll sein kann, die in der gleichen Lebenssituation stehen.
Nachdem meine Söhne das Nest verlassen hatten, erinnerte ich mich plötzlich mit Dankbarkeit und Wehmut an meinen Auszug aus dem Elternhaus. Mit fliegenden Fahnen und großem Enthusiasmus hatte ich mich in meiner eigenen kleinen Wohnung eingerichtet. Freute mich auf den Besuch im Elternhaus, auf die Begegnung mit meinen Brüdern – auch wenn nicht immer Harmonie angesagt war. Und regte mich auf, wenn meine Mutter mir zum Abschied ein Doggybag in die Hand drückte. Schließlich konnte ich jetzt auch gut für mich selbst sorgen . . .
Beratung für Eltern
Psychologische Beratung bietet keine Patentrezepte, aber eine individuelle, kompetente Unterstützung. So können sich Eltern, die sich auf den Auszug ihrer Kinder aus dem Elternhaus einstellen müssen und dabei Hilfe brauchen, an diverse Beratungsstellen wenden, unter anderem an die Beratungsstellen für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in der Region: Würzburg: Echter-Haus, Dominikanerplatz 8, 97070 Würzburg, Tel. (09 31) 38 66 90 00 oder info@eheberatung-wuerzburg.de
Schweinfurt: Friedrich-Stein-Straße. 28, 97421 Schweinfurt, Tel. (0 97 21) 1 84 87 oder info@eheberatung-schweinfurt.de
Aschaffenburg: Webergasse 1, 63793 Aschaffenburg, Tel. (0 60 21) 2 11 89 oder info@eheberatung-aschaffenburg.de