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Wenn der Darm ständig gereizt ist
Bauchbeschwerden ohne ersichtlichen Grund: Ein Reizdarm macht vielen Menschen zu schaffen.
Foto: Fotolia | Bauchbeschwerden ohne ersichtlichen Grund: Ein Reizdarm macht vielen Menschen zu schaffen.
Daily X
 |  aktualisiert: 16.12.2020 12:34 Uhr

Manche Menschen leiden längerfristig unter mehr oder weniger starken Darmbeschwerden – Bauchschmerzen, Verstopfung, Durchfall, Blähungen –, obwohl keine organische Ursache gefunden werden kann. Dann sprechen Experten von „funktionellen Darmbeschwerden“ oder auch vom „Reizdarmsyndrom“. Professor Paul Enck, Forschungsleiter der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Tübingen, befasst sich seit Jahrzehnten mit der Problematik. Er ist Sekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität, die sich schwerpunktmäßig mit dem Reizdarm beschäftigt.

Frage Professor Enck, können Sie zunächst etwas sagen zum Ausmaß des Problems Reizdarm, was Häufigkeit und Lebensqualität der Betroffenen angeht?

Paul Enck: Wir kennen die Krankheitshäufigkeit ziemlich gut, sie liegt in nahezu allen Kulturkreisen zwischen fünf und 15 Prozent. Bei uns sind ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung betroffen. Es gibt vergleichende Untersuchungen, die zeigen, dass die damit verbundenen Beschwerden ähnlich belastend sind wie bei anderen chronischen Erkrankungen wie Migräne oder Diabetes. Die meisten Patienten versuchen, sich selbst zu helfen, nur ein kleiner Teil sucht Hilfe bei einem Arzt. Und wiederum nur ein kleiner Teil dieser Patienten – solche mit sehr starken Beschwerden – kommt zu uns in die Uniklinik. Darunter sind Patienten, die die 17. Darmspiegelung binnen zehn Jahren hinter sich haben. Das hilft ihnen aber nicht weiter. Diese wiederholten Untersuchungen stärken nur ihre Vermutung, dass etwas organisch nicht in Ordnung ist.

Worunter leiden Patienten am meisten?

Enck: Bei einem Teil stehen Bauchschmerzen im Vordergrund, bei anderen sind es massive Blähungen. Es gibt da mehrere Facetten. Meine Annahme ist: Wahrscheinlich handelt es sich beim Reizdarmsyndrom gar nicht um ein einheitliches Krankheitsbild – es ist nur noch nicht gelungen, dies nachzuweisen.

Ist man bei der Suche nach den Ursachen in den vergangenen Jahren vorangekommen?

Enck: Im Moment schaut jeder auf die Darmflora, das Mikrobiom. Aber es gibt zu den Ursachen viele verschiedene Hypothesen: Ein Dutzend sind es sicherlich. Das reicht von der Motilitätshypothese – wonach Veränderungen der Darmbeweglichkeit eine Rolle spielen – bis zur Hypersensitivitätshypothese, die eine Überempfindlichkeit des Darms verantwortlich macht. Aber die Ursache ist bislang nur beim postinfektiösen Reizdarmsyndrom sicher. Bei dieser Form gibt es einen Zusammenhang mit einer vorangegangenen Darminfektion und der Einnahme von Antibiotika.

Spielt denn die Psyche auch eine Rolle?

Enck: Die Psyche spielt immer eine Rolle, bei jeder Krankheit! Aber zur Frage, ob sie ein Reizdarmsyndrom auslösen kann: Nein, das kann sie nicht. Aber Stress kann die Beschwerden verschlimmern.

Gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die für ein Reizdarmsyndrom prädestinieren?

Enck: Nein, das haben wir über die Jahre gelernt – man kann den Patienten ein Reizdarmsyndrom nicht an ihrer Psyche ansehen. Wenn man lange Zeit unter Bauchschmerzen leidet, fällt mancher zwar leicht in eine Depression, aber genauso viele Patienten sind psychisch verhältnismäßig unauffällig.

Ein Reizdarmsyndrom ist nicht heilbar?

Enck: Nein, es gibt keine kausale, also ursächliche Therapie – so wie das auch bei den chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten und im Grunde der Mehrzahl aller Krankheiten der Fall ist.

Aber gibt es zumindest symptomatische Therapien, die sich bewährt haben?

Enck: Ja, man kann versuchen, die Symptome zu beeinflussen – den Schmerz, die Verstopfung, den Durchfall. Es kommen immer wieder mal Medikamente auf den Markt. Aber im Grunde hat sich diesbezüglich in den letzten drei Jahrzehnten nicht wirklich etwas verbessert.

Es hieß einmal, Pfefferminzöl könne hilfreich sein?

Enck: Ja, da wurden in Italien mehrere Studien mit einem bestimmten Präparat gemacht. Es wirkte krampflösend.

Und Biofeedback?

Enck: Das war auch mal eine Idee. Es hat aber nichts gebracht.

Wie sieht es aus mit Psychotherapie, ist sie wirksam?

Enck: Dazu gibt es inzwischen eine Vielzahl von Studien. Auch zu psychiatrischen Interventionen mit Antidepressiva übrigens: Mit beidem lässt sich ein Teil der Problematik positiv beeinflussen. Antidepressiva in einer Dosierung, die noch nicht antidepressiv wirksam ist, zeigen eine Wirkung auf die Darmmuskulatur. Das verwundert nicht, denn der Neurotransmitter Serotonin, über den viele Antidepressiva wirken, wird auch im Darm produziert und gebraucht.

Sie haben schon angesprochen, dass die Darmflora, das sogenannte Mikrobiom, derzeit ein großes Thema ist. Erwarten Sie, dass Probiotika, die eine gesunde Darmflora fördern, ein Reizdarmsyndrom günstig beeinflussen können?

Enck: Ich erlaube mir da große Skepsis. In der Tat, viele versprechen sich etwas davon. Man hat eben gelernt, dass im Zusammenspiel zwischen Hirn und Darm mit dem Mikrobiom noch ein weiterer Spieler auf dem Feld ist, der früher eher ignoriert wurde. Aber bis er wirklich verstanden ist, werden noch Jahre vergehen.

Es heißt, es würden auch Stuhltransplantationen bei Reizdarm erwogen, um das Mikrobiom positiv zu beeinflussen?

Enck: Eigentlich handelt es sich dabei gar nicht um eine Transplantation, denn wenn man den Stuhl eines anderen als Lösung in den Darm infundiert, bekommt man damit die patienteneigene Darmflora ja nicht weg. Die Stuhltransplantation bleibt ein experimentelles Vorgehen, für das es noch nicht viele Grundlagen gibt. Placeboeffekte dürften dabei eine große Rolle spielen. Trotzdem gibt es Firmen, die darüber nachdenken, aus entsprechenden Keimen „künstliche Stühle“ zusammenzustellen, um damit die Darmflora zu beeinflussen.

Können Patienten denn auf eine Spontanheilung hoffen?

Enck: Wir wissen, dass die Beschwerden mit zunehmendem Alter nachlassen. Ob man das Heilung nennen kann oder ob sich nur eine größere Toleranz gegenüber den Symptomen einstellt, ist aber offen. Reizdarmpatienten haben jedenfalls keine verringerte Lebenserwartung, so viel kann man sagen! Es ist eher so, dass sie im Schnitt länger leben, weil bei ihnen aufgrund der häufigeren Darmspiegelungen Darmkrebs früher entdeckt wird.

Gibt es Empfehlungen, die man den Reizdarmpatienten geben kann?

Enck: Die Patienten brauchen eine sorgfältige, das heißt gesunde Ernährung. Was gesund ist, ist zum einen definiert durch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, zum anderen muss jeder Patient für sich herausfinden, welche Kost zu ihm passt und ihm guttut. Mit dem, was er verträgt, sollte er versuchen, eine ausgewogene Ernährung hinzubekommen, die alle nötigen Nährstoffe enthält. Wichtig ist darüber hinaus natürlich der Abbau von Stress.

Reizdarmsyndrom

Die Neurogastroenterologie beschäftigt sich mit dem enterischen Nervensystem, das in der Darmwand lokalisiert ist und wesentliche Darmfunktionen wie Nahrungstransport, Sekretion und Resorption steuert. Es handelt sich um ein komplexes Geflecht aus etwa 100 Millionen Nervenzellen, das nahezu den gesamten Verdauungstrakt durchzieht.

Der Reizdarm ist ein wesentliches Aufgabengebiet von Neurogastroenterologen, aber auch andere funktionelle Störungen des Verdauungstraktes wie der Reizmagen. Organische Ursachen für die mit diesen Krankheitsbildern einhergehenden Symptome wie Bauchschmerzen, Völlegefühl oder Blähungen können nicht gefunden werden.

Text: SHS

 
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