
Am Tag nach dem nationalen Trauma von Belo Horizonte, als die brasilianische Nationalmannschaft gegen Deutschland mit 1:7 unterging, gab es einen bösen Unfall. Mitten auf der Avenida Alfredo Balena, die nach einem berühmten Mediziner benannt ist und den Praça Hugo Werneck mit dem Parque Municipal verbindet. Ein von einem Auto erfasster Motorradfahrer lag schwer verletzt auf dem Asphalt, ein Krankenwagen war bereits angekommen, als die im Rückstau steckenden Fahrzeugführer genervt zu hupen begannen. Menschen blieben stehen. Zwei Sanitäter versuchten etwas unbeholfen, dem Verletzen aufzuhelfen. Der junge Mann bewegte sich kaum und blutete stark. Das Ganze passierte nur wenige Meter entfernt vom großen Hospital Joao XXIII.
Viel von der bisweilen zu besichtigenden Unfähigkeit dieses Landes mit seinen Alltagsproblemen klarzukommen, offenbarte sich in diesem Moment. Als ob jemand hier im Stadtzentrum der drittgrößten City Brasiliens einen Beleg bieten wollte, keine 24 Stunden nach der medial in den Rang einer nationalen Katastrophe erhobenen Niederlage gegen Deutschland, dass vielen von den 200 Millionen Bewohnern Tag für Tag Schlimmeres widerfährt. Immerhin: Sie haben den angefahrenen Mann irgendwie in den Rettungswagen bekommen und ins Krankenhaus gebracht.
Dann haben sich alle wieder zerstreut, und wer unter diesem Eindruck weitergelaufen ist, die Straße namens Pernambuco entlang, erreichte den Stadtteil Funcionários. Dort befindet sich der Praça da Savassi, das Herzstück der Unterhaltung im Bundesstaat Minas Geiras. Kneipen, Cafés, Restaurants – und jede Menge Leute. Deutsche Fans haben hier noch das zweite Halbfinale zwischen Argentinien und Niederlande geschaut. Und nach zwei, drei Bier fingen sie an zu singen. Erst leise, dann lauter. Sie hatten gemerkt, dass sie nichts zu befürchten hatten. Nicht von der kleinen Delegation Argentinier und erst recht nicht von den Brasilianern. Die haben es über sich ergehen lassen. So wie David Luiz und Kollegen es auf dem Spielfeld hingenommen haben. Fast gleichgültig.
Wer in der Rückschau sagt, diese WM hinterlasse bei den Einheimischen keine Spuren, der hat sich nicht unters Volk gemischt. Selbst im eher europäisch geprägten Süden, in dem nicht vom Wetter verwöhnten Spielort Porto Alegre und den mit den unattraktivsten Spielen bedachten Standort Curitiba gab es – vor allem viele ältere Menschen – die hoch erfreut Gäste begrüßten, die aus dem Land ihrer Vorfahren kamen. Aus Deutschland oder aus Italien. Für die junge, gut gebildete Mittelschicht, die Europa schon besucht oder dort studiert hat, sind Facebook-Freundschaften mit den Fans aus diesen Ländern wichtiger als ein gewonnenes Fußballspiel Brasiliens. Denn sie wollen sich austauschen, vor allem darüber, warum vieles in Europa so viel besser läuft als in Südamerika.
Sie möchten dagegen aufbegehren, dass das Land seine natürlichen Ressourcen wie den einzigartigen Waldbestand so rücksichtslos opfert und konsequent den Umweltschutz missachtet. Viele werden sich weiter dafür einsetzen, dass in Bildung und Infrastruktur überfällige Investitionen ähnlich umfangreich getätigt werden wie in eine Fußballarena mitten im Amazonasdschungel. Nur haben die brasilianischen Medien diesen Eindruck fast nie vermittelt. Sie haben die bunten Gesichter bei den Spielübertragungen benutzt, um eine unpolitische Botschaft zu senden. „Jogo bonito“ – das schöne Spiel. „Seht her und feiert mit!“ Das haben viele getan, und das war auch gut so. Fast alle, die in Rio de Janeiro die fußballaffine Copacabana besuchten, gerieten ob dieses Schmelztiegels ins Schwärmen.
Und mögen Touristenstädte wie Fortaleza noch so viele Problemviertel besitzen, auch sie bildeten einen idealen Ort, um das Einzigartige einer WM zu genießen. Das Band, das eine WM spannt, kann tatsächlich alle zusammenhalten. Die Stimmung, sie war vielerorts besser als erwartet, aber eben nicht überall: Eine kalte Hauptstadt wie das einst am Reißbrett geplante Brasilia hat allenfalls einen Hauch von der anderswo phänomenalen Atmosphäre eingeatmet. Auch der Millionen-Moloch Sao Paulo taugte nicht, um kollektiv Beifall zu klatschen. Im Gegenteil. Hier sammelten sich die meisten Proteste.
Und doch traten die meisten Gäste mit diesem Fazit ihren Heimflug an: viel besser als erwartet. Und wer sich mit deutschen Fans noch Motiven für ihren Brasilien-Trip auseinandersetzte, erhielt sehr häufig eine vorausschauende Antwort: Nach Russland 2018 möchten wir nicht, und nach Katar 2022 wollen wir nicht.