Keine Ratschläge annehmen
Wehren kann man sich lange gegen das Alter. Alles in den Wind schlagen, was Angehörige vorschlagen. Die Teppiche in der Wohnung beiseiteräumen, zum Beispiel. Die Tochter sieht hier böse Stolperfallen, die Mutter ihren ganzen Stolz. Oder ein höheres Bett anschaffen, vielleicht mit verstellbarem Rücken- und Fußteil. „Wieso“, sagt die 90-Jährige dann, „das alte ist doch noch gut.“ Außerdem würde so ein modernes Ding nicht zur Schrankwand passen. Regelmäßiger Besuch von einem Ambulanten Pflegedienst? Davon will die Mutter auch nichts hören. Mit ihren zwei Gehstöcken ist sie bis jetzt noch immer klargekommen. Und außerdem: Was sie mit ihrem Geld und ihrem Leben macht, das ist ganz allein ihre Sache.
Wenn nur das Heim als Lösung bleibt
Und dann passiert's. Es muss kein Sturz sein, keine Krankheit. Nur das Alter. Allein leben, den letzten Rest Alltag meistern, geht plötzlich nicht mehr. Auch wenn täglich jemand vorbeikommen, sich um den Haushalt kümmern würde. Es gibt nur eine Lösung: ein Heim. Das ist kein leichter Schritt. Nicht für die Angehörigen, nicht für den Betroffenen. Auch hier kann man sich noch lange wehren. Die eigene Wohnung noch über ein Jahr weiterbehalten zum Bespiel, obwohl man längst im Heim lebt. „Sobald ich wieder laufen kann, kann ich ja wieder zurück.“ Diese Hoffnung nimmt nur der Kontostand. Pflegestufe eins, Doppelzimmer: Das kann 1230 Euro im Monat Eigenanteil bedeuten.
Ein Leben entsorgen
Dann kommt die Wohnungsauflösung. Ein komplettes Leben wird in ein paar Tagen entsorgt. Geschonte Sessel. Das gute Geschirr. Die Tischdecken für den besonderen Besuch. Die schönen Kleider für die Kirche. Die angeschlagenen Alltags-Teller und -Tassen, die man irgendwann bestimmt nochmal für etwas hätte gebrauchen können. Die gestärkten Gardinen. Nippes, der nur wegen der ganzen Erinnerungen, die daran hängen, einen Platz in der Vitrine gefunden hat. Alles kommt weg. Das ist schon schlimm genug. Aber dass niemand aus der Familie die Sachen haben will. Das trifft eine alte Frau ins Mark. Auch versteht sie nicht, warum jemand so viel Geld für das bloße Entsorgen der Sachen kriegt. In ihren Augen ist doch alles noch so gut wie neu. In ihren Augen hat sich die Familie über den Tisch ziehen lassen. Das sagt sie immer wieder.
Der Kampf mit dem Gewissen
Die Familie nimmt derweil den langen Kampf mit dem schlechten Gewissen auf. Eigentlich wäre er nicht nötig. Wer selbst auf die 70 zugeht, kann schlecht jemanden pflegen. Außerdem hat die Mutter ein schönes Zimmer im Heim, wird perfekt betreut. Aber das schlechte Gewissen ist bei jedem Heim-Besuch mit dabei. Wie die schleichende Gewissheit, selbst mal so zu enden. Tagein, tagaus im Bett liegen. Auf Besuch warten. Aus Schnabeltassen trinken. Sich an Windeln oder Katheter gewöhnen. Alle Intimsphäre aufgeben.
Ewige Jugend ist eine Illusion
Jedes Mal beim Abschied, die Beklemmung und das schlechte Gewissen im Gepäck, sagt man sich, „ich will so nicht enden“. Und weiß, dass man es nicht ändern kann. Auch wenn man sich noch so tapfer wehrt. Sich noch so gesund ernährt, Sport macht, positiv denkt und was es noch alles an Rezepten für ein langes, aktives Leben gibt. Ewige Jugend ist eine Illusion.
Mit der Schönrederei aufhören
Vielleicht wäre alles leichter, wenn die Schönrederei aufhörte. Die Stifte und Residenzen wieder Heime hießen. Die Leute einfach alt, tattrig und gebrechlich sein könnten. Es um Pflege für Alte und nicht Freizeitgestaltung für Senioren ginge. Nicht von allem möglichen Seiten suggeriert würde, man müsse schon von sich erwarten, mit 82 mindestens noch auf Berge zu steigen oder die Nächte durchzutanzen. Dann wäre das Alter zwar immer noch nichts für Feiglinge, der Schock der Realität aber nicht so groß. Und die Energie, die man für das Wehren verbraucht, wäre frei für das Leben.
Die Serie Lieblingsstücke
Der Originaltext „Warum Altwerden nichts für Feiglinge ist“ von Susanne Wiedemann ist im November 2009 erschienen.