Spurensuche in Oberlauringen: Vor 76 Jahren hat Helmut Stoll sein Elternhaus in der Hadergasse und seinen Besitz zurückgelassen. Stoll war Jude. Um dem Holocaust zu entgehen, flüchtete der Viehhändler in die USA. In diesen Tagen sind sein Sohn Sanford und Enkel Jason zurückgekehrt. Sie wollten die Welt besuchen, die einst die ihrer Vorfahren war. Und sie nahmen einen gewaltigen Berg an Eindrücken mit: „Das ist so viel mehr als wir erwartet hatten.“
Sanford P. und Jason S. Stoll aus Patchogue auf Long Island sprechen kein Deutsch. Ihr inzwischen verstorbener Vater hat in seiner Familie, die er auf dem anderen Kontinent aufgebaut hat, die Sprache seiner früheren Heimat nicht benutzt. Allerdings ist er noch zweimal nach Deutschland zurückgekehrt. Aber es war zu keinem Kontakt, zu keinem Gespräch mit den heutigen Bewohnern von Oberlauringen gekommen. Einzig den jüdischen Friedhof hatte er in Begleitung seiner Frau besucht.
Anders als bei einer Stippvisite in Andernach (Rheinland-Pfalz), wo Stolls Vorfahren mütterlicherseits herstammen, trafen Sanford und Jason Stoll in Oberlauringen keine lebenden Verwandten an. Dennoch war der Besuch emotional.
In Gesprächen erfuhren sie viele kleine Geschichten der Familie aus einer früheren, für die Oberlauringer Stolls noch unbeschwerten Zeit. Aber auch mehr Informationen über Repressalien gegen die Brüder Stoll aus der Zeit des Nationalsozialismus. Es gab Verhaftungen (die so genannte Schutzhaft), Arbeitslager, Deportationen. Cordula Kappner, die viele Dokumente über die Familie Stoll aus Archiven und Haushalten zusammengetragen hatte, konnte somit ein recht lebendiges Bild der damaligen Zeit vermitteln. Diese Zeitzeugnisse gehörten 2012 auch zu einer Ausstellung zur jüdischen Geschichte Oberlauringen.
„Das mag ich denen jetzt gar nicht zeigen“, sorgte sich Friedel Korten, die sich im Ort um die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte kümmert, um die emotionale Belastbarkeit der Gäste. Etwa bei einem Zeitungsbericht mit dem Titel „Kolonne Grünspan lernt arbeiten“. Zu sehen sind auf dem Titelblatt jüdische Bürger aus dem Kreis Hofheim, die 1938 inhaftiert und in ein Arbeitslager gesteckt worden waren. Dabei haben die Stolls und ihre hiesigen Gastgeber ihren Onkel David eindeutig identifiziert, der zu dieser Zeit inhaftiert war.
Spannend war der Bericht des Oberlauringer Zeitzeugen Reinhold Klopf, der die älteren Brüder von David Stoll kannte. Er berichtete von einem Vorfall, als Leo, einer der Stoll-Söhne, nach einer Versammlung der Nationalsozialisten einen Stein in den Raum geworfen hatte. Wohlwissend, was diese spontane, unüberlegte Tat für Folgen haben würde, versteckte sich Leo. Klopfs Großvater Gustav, damals zweiter Bürgermeister, entdeckte den Jungen. Er verriet ihn nicht und rettete womöglich sein Leben. Leo Stoll gelang die Flucht über die Schweiz und England in die USA.
Sanford und Jason Stoll besuchten auch den jüdischen Friedhof in Oberlauringen. Der Weg führte vorbei am ehemaligen Haus von Helmut Stoll in der Hadergasse; damals war es das Haus Nr. 135 a. Außerdem trafen sich die Gäste aus den USA mit dem Heimatforscher Klaus Bub aus Maßbach. Jener überraschte sie mit weiteren Informationen über Großvater und Urgroßvater Stoll – zurück bis ins Jahr 1799. Und er zeigte das Wohnhaus ihres Vorfahren. Leise sagte Sanford Stoll: „Das ist so viel mehr, als wir erwartet hatten.“