Leonhard Frank, aufgewachsen im Mainviertel, berühmt geworden in Berlin, hatte Frauen, Autos und Geld. Zweimal flüchtete er ins Exil: 1915 als Pazifist, 1933 als Antifaschist. Er ist ein Sozialist und Pazifist, ein Gentleman und einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller seiner Zeit.
Als er 1950, nach 17 Jahren, aus dem Exil zurückkehrt, fühlt er sich wie ein Handlungsreisender, dessen Ware nichts taugt. Die Nazis haben seine Bücher verbrannt, die junge Bundesrepublik will nichts von ihm wissen. Er meint, Hitler habe über ihn gesiegt.
Im Frühjahr 1947, im New Yorker Asyl, liest er die Nachricht von der Zerstörung Würzburgs. Im autobiografischen Roman „Links wo das Herz ist“, erschienen 1952, schildert er diesen Moment. „Der Schlag traf ihn (sein Alter Ego Michael Vierkant) mitten ins Gefühl und erschlug sein Gefühl. Er war innerlich taub. Sein Schmerz (…) glich dem eines Menschen, der den Schmerz im amputierten Arm noch spürt. Ein gefühlsbeladener Teil seines Lebens war für immer weggewischt.“
Mit vier Romanen setzte er Würzburg ein Denkmal. Mit dreien schmücken sich die Würzburger: „Die Räuberbande“, erschienen 1914, „Das Ochsenfurter Männerquartett“ (1927) und „Von drei Millionen drei“ (1932). Mit dem vierten, „Die Jünger Jesu“, 1949 erschienen, sticht er in ein Wespennest. Er macht seine Heimatstadt zum Schauplatz eines Romans über Deutschland unmittelbar nach dem Krieg.
An seinem Schreibtisch an der amerikanischen Ostküste verbindet Frank vier Erzählstränge: Eine Knabenbande, die sich „Jünger Jesu“ nennt, bestiehlt im Nachkriegs-Würzburg die Reichen und beschenkt die Armen. Nazis kommen aus ihren Löchern gekrochen. Eine junge deutsche Frau verliebt sich in einen US-amerikanischen Soldaten. Eine jüdische Würzburgerin, verschleppt erst nach Auschwitz, dann in ein Bordell, deutschen Soldaten zum Zeitvertreib, kehrt zurück, um den Mord an ihren Eltern zu rächen.
Hans Steidle, profunder Frank-Kenner und Würzburgs Stadtheimatpfleger, meint, Frank sei auf Würzburg als vertrauten, „erinnerten und erlebten Raum angewiesen“ gewesen, „wie Böll auf das Rheinland und Köln.“ In einem Aufsatz, veröffentlicht im Heft 3 der Schriftenreihe der Leonhard-Frank-Gesellschaft, nennt er „Die Jünger Jesu“ ein „riskantes Unternehmen“. Grund: Der Autor schreibt aus der Ferne, im 17. Jahr des Exils, über das Leben in den Ruinen und die Folgen von Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust.
Frank startet mit einem Fehler in den Roman: „Das SS-Kommando hatte die Forderung des amerikanischen Generals, die Stadt kampflos zu übergeben, abgelehnt und gegen den Willen der machtlosen Einwohnerschaft den Widerstandsbefehl erlassen, obwohl nichts mehr zu ändern gewesen war.“
Das ist falsch. Britische Bomberpiloten, nicht amerikanische Soldaten, zerstörten Würzburg. Dieses SS-Kommando samt verheerendem Widerstandsbefehl gab es nicht.
Steidle analysiert: Frank sei mit Informationen konfrontiert gewesen, die er sich „nur aus der Distanz und in der Fantasie vergegenwärtigen konnte“. Aber das interessierte die Kritiker nicht. Die bestanden darauf, dass kein SS-General die Zerstörung der Stadt verschuldet hat.
Einer von ihnen war Anton Meyer, der einflussreiche Kulturredakteur der Main-Post. Im August 1952, kurz vor Franks 70. Geburtstag, verreißt er „Die Jünger Jesu“. Er nennt Frank einen „Tendenz-Schriftsteller, der im Würzburg von 1947 schon wieder die SA marschieren und die HJ exerzieren sah“. Frank beuge die dichterische Freiheit „allzu sehr“, das beginne „mit dem sagenhaften SS-Kommando“ und ende mit dem Übertritt der „Jünger Jesu“ in die sozialistische Jugend.
Es gehört zu den Besonderheiten dieses Romans, dass Frank auch da wahrhaftig ist, wo er faktisch daneben liegt.
Am 1. April 1945, der Krieg war verloren, Würzburg zerstört und die amerikanische Infanterie nahe, als Otto Hellmuth, der NS-Gauleiter, die Würzburger aufrief, Panzersperren zu bauen und sich „kampfbereit mit hasserfülltem Herzen hinter sie zu stellen“. Wer verwundet in Gefangenschaft gerate oder sich nicht bis zum letzten Atemzug verteidige, verliere seine Ehre. „Die Angehörigen stehen mit ihrem Leben für den Verräter.“ So befahl Hellmuth. Dann türmte er.
Möglicherweise wäre Frank die Realität, hätte er sie gekannt, zu fantastisch gewesen für seinen Roman.
Steidle argumentiert, natürlich habe nicht der SS-General mit seiner Kapitulationsverweigerung Würzburgs Zerstörung veranlasst. „Aber die Weigerung NS-Deutschlands den Krieg zu beenden, war die Ursache für den Untergang des alten Würzburg“.
Franks Gegner erbosen sich über die Geschichte vom Mob, der im NS-Würzburg auf dem Marktplatz Juden erschlägt. Das ist nicht geschehen und dennoch stimmt sie. In der Pogromnacht vom 9. November 1939 brachten Nazis und ihre Mitläufer drei jüdische Würzburger um. Bis 1945 ermordeten sie mehr als 2000 jüdische Würzburger in den Vernichtungslagern. Es gibt eine würzburgische Tradition des Judenmordes, auch auf dem Marktplatz. Hier stand im Mittelalter das Getto, wo am 23. Juni 1298 Kreuzritter und christliche Würzburger 900 jüdische Nachbarn erschlugen.
„Würzburg, am Main, die Stadt des Weines und der Fische, der Kirchen, gotisch und barock, wo jedes zweite Haus ein unersetzlichen Kunstdenkmal war, wurde nach dreizehnhundertjährigem Bestehen in fünfundzwanzig Minuten zerstört. Den folgenden Morgen floss der Main, in dem sich die schönste Stadt des Landes gespiegelt hatte, langsam und gelassen durch Schutt und Asche, hinaus in die Zeit.“
Mit diesem, dem zweiten Absatz des Romans, zeigt Frank, wie sehr er Würzburg zugetan ist. Die Schilderung der Bubenbande ist eine Liebeserklärung an die Stadt. Sie muss großartig sein, wenn sie solche Jungs hervorbringt: listig, tatendurstig, komisch, mitfühlend. Die Beute ihrer Diebeszüge – vor allem Lebensmittel und warme Kleidung – schaffen sie in die Behausungen der Bedürftigsten, ohne ihre Identität preiszugeben.
Frank ist ein Sozialist. „Links wo das Herz ist“ beendet er mit einem Glaubensbekenntnis, nach dem „die Verselbstständigung der guten Eigenschaften des Menschen“ unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung „nicht möglich ist“. Der Mensch werde erst menschlich sein, „wenn er durch nichts mehr gezwungen wird, unmenschlich zu sein“. Er glaubt, „dass die Haben-haben-haben-Wirtschaftsordnung (…) im Jahre 2000 abgelöst sein wird durch die sozialistische Wirtschaftsordnung“. Vor Irrtümern ist er nicht gefeit.
Seine Kritiker haben ihn begriffen. Deswegen mögen sie ihn nicht.
1914, als Franks gefeierter Debütroman „Die Räuberbande“ erscheint, kennen nur wenige seine politische Gesinnung. Die Würzburger nehmen hin, wie er die Existenz eines sadistischen Lehrers erklärt: „Der Katholizismus, die Klöster, Mönche und Priester, die engen Kurven der Gassen mit den feuchten Schatten, die gotischen Kirchen, die hohen, grauen Mauern, aus denen unvermittelt gotische Fratzenbildwerke springen, all dies zusammen wirkt auf den Menschen von Jugend an. So eine Stadt bringt Böse hervor, die schon als siebenjährige Kinder Sünden beichten mussten. Verblödete, religiös Irrsinnige, Ehrgeizige, bucklig Geborene, heimliche Mörder, Krüppel, Asketen, Kinderschänder ... auch Künstler. Und Menschen wie den Lehrer Mager ..."
Mehr als 40 Jahre später empören sich Franks Gegner, weil er für „Die Jünger Jesu“ eine Liebschaft zwischen einer Deutschen und einem US-Amerikaner, einem Besatzer erfindet. Das ist ein Verstoß gegen die Moral. Beziehungen ohne Trauschein gelten als unsittlich, absolut inakzeptabel sind sie mit Angehörigen der Besatzungsmacht. Kulturredakteur Meyer beklagt zudem „eine schwüle Sexualität“.
Franks Überzeugung, dass Liebe wichtiger sei als alle Konvention, passt nicht ins konservative, braungestreifte Würzburg. 1952 will das Stadttheater sein Drama „Karl und Anna“ auf die Bühne bringen. Der Soldat Karl sucht nach dem Krieg die Ehefrau seines totgeglaubten Kameraden Richard auf und gibt sich als ihr Mann aus. Sie nimmt ihn als Richard auf – bis der heimkehrt. Es kommt zum Eklat. Meyer schreibt, Frank verhöhne die christliche Ehre, der Kriegsgefangenen und ihrer Ehefrauen. Die CSU versucht, die Aufführung zu verhindern, erfolglos.
Wie sicher Frank ins Schwarze trifft, wenn er die nazistische Kontinuität in Würzburg, respektive Deutschland thematisiert, offenbart viel später der Nervenarzt Elmar Herterich. In den 60er Jahren deckt er die NS-Aktivitäten Würzburger Honoratioren auf, inklusive der rassistischen Dissertation des Oberbürgermeisters Helmuth Zimmerer. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der 1957 den NS-Verbrecher Adolf Eichmann aufspürt und die 1963 beginnenden Auschwitz-Prozesse vorbereitet, berichtet im Gespräch mit einer dänischen Tageszeitung, Würzburg werde „von einer nazistischen Clique terrorisiert“. „Stern“, „Spiegel“ und „Die Zeit“ berichten in großen Geschichten, der Kölner Stadt-Anzeiger bringt eine mehrteilige Serie unter dem Titel „Wie braun ist dieses Würzburg?“.
Bedrückend ist Franks Schilderung von Ruth Freudenheim, der Heldin des Romans. Als sie nach der Befreiung aus dem Warschauer Bordell nach Würzburg zurückkehrt, mit dem Ziel, den Mörder ihrer Eltern zu töten, war sie, schreibt Frank in „Links wo das Herz ist“, „in unermesslichem Entsetzen abgestorben. Der Körper war zwei Jahre in dem Haus gewesen. Ihr Körper war nicht mehr sie. Sie war nicht mehr. Nichts auf der Welt hätte sie zum Weinen bringen können. Nichts mehr bewegte sie. Sie war etwas, das es vor der Naziherrschaft nicht gegeben hatte. Ruth war eine wandelnde Tote.“
Im Exil, 14 Jahre vor dem Beginn der Auschwitz-Prozesse, 18 Jahr vor „Die Unfähigkeit zu trauern“ von Margarete und Alexander Mitscherlich, gelingt ihm zu beschreiben, wie die Nazis die Seelen ihrer Opfer verheerten. Frank profitiert von Begegnungen mit dem österreichischen Psychoanalytiker Otto Groß, einen Schüler Sigmund Freuds. Von ihm übernahm er einen tiefenpsychologischen Ansatz der Weltbetrachtung, wonach alle Einflüsse aus der Umwelt die Psyche von frühester Kindheit an prägen. Nach dieser Lehre führen traumatische Erlebnisse, Demütigungen und Unterdrückung zu persönlichen Verdrängungen und psychischen Deformationen.
Als Frank 1950 aus dem Exil nach Würzburg zurückkehrt, besucht ihn Würzburgs Oberbürgermeister Franz Stadelmayer im Hotel. 1952 beschließt der Stadtrat einstimmig, Frank die Silberne Stadtplakette zu verleihen. Die Zeremonie findet nicht im Rathaus statt, das ging der CSU dann doch zu weit, sondern im Studentenhaus.
In „Links wo das Herz ist“ schreibt er, sein Alter Ego Michael Vierkant „versagte es sich, die Herren der Zeitung und die üblichen Verwalter der Ehre Würzburgs zu fragen, ob es ein Verbrechen sei und eine Verunglimpfung Würzburgs, die Schandtaten des Naziregimes zu brandmarken und damit auch zugleich darauf hinzuweisen, dass die Meinung der Welt, das deutsche Volk habe in seiner Gesamtheit diese Schandtaten begangen, eine Weltlüge war. Er versagte es sich, den Hütern der Ehre Würzburgs zu erklären, dass der Mörder schuldig ist und nicht derjenige, der den Mörder des Mordes beschuldigt. (…) Jeder Leser in Würzburg konnte nach der Lektüre der ,Jünger Jesu‘ wissen, wenn er guten Willens war, dass in diesem Roman nicht Würzburg und die Würzburger gebrandmarkt sind.“
Frank zieht nach München, wo er 1961, knapp 79 Jahre alt, stirbt.