Karfreitag 2012: Kai Christian Moritz, Schauspieler am Würzburger Mainfranken Theater, bläst die einzige brennende Kerze auf dem Altar von St. Johannis aus, und Pfarrerin Susanne Wildfeuer entlässt die Gottesdienstbesucher in die Stille. Das Geschehen auf Golgatha liegt 2000 Jahre zurück. Nichts als Vergangenheit? Zeitgenössische Annäherungen an das grausame und doch welt-verändernde Geschehen der Passion ermöglichten mindestens drei Gottesdienste und Veranstaltungen der Karwoche in Würzburger Kirchen.
Am Karmittwoch boten die von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Citypastoral in der Kirche des katholischen Augustinerklosters in der Fußgängerzone organisierten „Extremen Welten“ Einblicke in die scheinbar verschlossene Welt des 1973 geborenen, autistischen Dichters Birger Sellin. Konzipiert hatten die „Miniaturen für Tanz, Wort und Musik“ der bekannte Choreograf Thomas Kopp, Chef des Würzburger Tanzspeichers, und der lange Jahre am Mainfranken Theater tätige Dramaturg Alexander Jansen. „Zu dem führen, was Passion ist“ – so formulierte Jansen das Anliegen der Veranstalter.
„Luft für eigene Gedanken“
Und dies gelang. Die über 350 Besucherinnen und Besuchen erlebten in der voll besetzten Augustinerkirche einen Mittwoch in der Karwoche der besonderen Art. Zur packend von Hans-Bernhard Ruß an der Orgel interpretierten Musik von Johann Sebastian Bach zogen drei Tänzerinnen mit ganz unterschiedlichen Körpersprachen – Katharina Lehmann (Würzburg), Magali Sander-Fett (Bremen) Katja Wachter (München) – und die Rezitatorin Katharina Ries das Publikum in das „hermetisch verschlossene Leben“ Sellins. Abgrundtiefe Einsamkeit, aber auch die „Sehnsucht nach Freundschaft und Liebe“ sprechen aus den Texten.
„Die Botschaften aus der rätselhaften Tiefe einer leidenden Natur“ lassen aber zugleich viel Platz für individuelles Nachsinnen. Thomas Kopp brachte es auf den Punkt: „Luft für eigene Gedanken“.
Gänzlich anders, wenn auch auf andere Art anregend, verlief der Gründonnerstagabend in der evangelischen Martin-Luther-Kirche im Frauenland. Pfarrer Niko Natzschka hatte zwei Abendmahle im wörtlichen Sinn organisiert: Dem Abendmahl in der Herrenhuter Form, bei dem Brot und Wein durch die Reihen gegeben werden, ging ein Festessen voraus. Gereicht wurden den 50 Gästen Lammfilet, Rosmarinkartoffeln und Speckbohnenbündel. Ein Rosé-Wein Casteller Provenienz erfreute den Gaumen genauso wie das Teegebäck.
Für Hörgenüsse sorgte das von Philipp Hagemann geleitete Hermann-Zilcher-Quartett mit Werken von Gabriel Faure, Peter Tschaikowski, Tomaso Albinoni, Johann Sebastian Bach und Karl Jenkins. Der leere, Christus vorbehaltene Platz in der Mitte der Festtafel machte allerdings unmissverständlich deutlich, wer der eigentliche Gastgeber war.
Eindringliche Rezitation
Am Karfreitag stand bei dem oben erwähnten „KreuzWeg“ in der St.-Johannis-Kirche in der Hofstallstraße die Passion Jesu im Mittelpunkt. Auf das Abendmahl folgte ein berührendes und nachdenklich stimmendes Gesamtkunstwerk aus Text, Musik und Tanz: Moritz trug mehrere Stationen aus dem Kreuzweg-Zyklus des französischen Dichters Paul Claudel in deutscher Übersetzung vor und bot mit dem durchdringenden, buchstäblich schauderhaften „Eli“-Schrei Jesu auch dem Anlass angemessene dramatische Akzente.
Im Wechsel mit der eindringlichen Rezitation setzten Ivan Alboresi und Aka Nakanome das Passionsgeschehen zur Musik des von Ulrich Pakusch an der Orgel virtuos vorgetragenen „Le Chemin de la Croix“ (Der Kreuzweg) Marcel Duprés aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eindrucksvoll um. Besonderen Eindruck hinterließ das Schlussbild mit Aka Nakanome als Pieta vor dem Altar.
Die von Moritz rezitierte Frage „Mein Gott, hat mein Sterben überhaupt einen Sinn?“ gilt allerdings nicht nur für das Sterben Jesu, sondern für jeden Menschen. Alle drei Veranstaltungen, so unterschiedlich sie auch waren, verbindet so ein Gedanke: Passion ist Gegenwart.