Es ist das dunkelste Kapitel in der Nachkriegsgeschichte der Julius-Maximilians-Universität Würzburg: Anfang 1983 wurden zwölf Studenten mit Thallium vergiftet. Der 24-jährige Robert A. starb, der 21-jährige Peter S. wurde zum Invaliden, zehn weitere Studenten erlitten furchtbare Qualen. Das Gift war in Saft- und Bierflaschen versteckt, die Täter wurden nie gefunden.
16 Zeilen in der Main-Post vom 4. Februar 1983 waren der erste öffentliche Hinweis auf ein Verbrechen, das die ganze Republik erschütterte. „Wer trank noch vom giftigen Saft?“ war die Meldung überschrieben. Es ging um fünf Studenten, die mit „Verdacht auf Schwermetallvergiftung“ in der neurologischen Uniklinik behandelt wurden. Alle hatten von den Säften getrunken, die am 31. Januar 1983 vor dem Hörsaal des medizinischen Kollegienhauses in der Koellikerstraße gestanden hatten, einem Gebäude, das es heute nicht mehr gibt. Dabei ein Zettel: „Liebe Kommilitonen! Dies sind die Reste unserer Faschingsfeier. Großherzig wie wir sind, spendieren wir diese unseren Erstsemestern.“ Die Getränke waren mit dem Gift Thallium versetzt.
Am 5. Februar 1983 lagen bereits zehn Studenten in der Klinik. Ihre Symptome: Magenschmerzen, Erbrechen, neurologische und psychische Veränderungen, Seh- und Herzrhythmusstörungen. . . Alle hatten aus den Flaschen getrunken, die nach dem Vergiften wieder mit Kronkorken verschlossen worden waren. Schon jetzt stand fest, dass Thallium in einer Konzentration verwendet worden war, wie sie nur in Labors vorkommt.
Während eine Sonderkommission der Polizei ermittelte, kämpfte Gift-Opfer Robert A. erfolglos um sein Leben. Am Montag, 8. Februar um 17.08 Uhr starb der junge Mann, der sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht hatte, weil er unbedingt Arzt werden und Menschen helfen wollte. Seine 22-jährige Frau Sabine war jetzt Witwe, sein zweijähriger Sohn Halbwaise.
Derweil wurden in zwei Würzburger Studentenheimen neue vergiftete Getränke entdeckt. Auch diese Flaschen enthielten tödliche Dosen Thallium. Jurastudent Peter S., 21 Jahre, und seine 19-jährige Freundin Annette L. tranken davon. Peter, der eine ganze Flasche geleert hatte, erlitt schreckliche, bleibende Schäden, Annette, die nur einen Schluck nahm, konnte geheilt werden.
Die Polizei verstärkte ihre Sonderkommission, an der Uni herrschte Bestürzung, Kühlschränke in den Gemeinschaftsküchen der Wohnheime wurden abgeschlossen, in der Mensa gab es keine offenen Getränke mehr, Salz- und Pfefferstreuer wurden von den Tischen entfernt, studentische Faschingsfeiern abgesagt. Universität, Stadt Würzburg, Landeskriminalamt, Parteien und Privatleute setzten 15 000 Mark Belohnung aus für Hinweise, die zu den Mördern führen.
Bis Ende Februar waren bei der Polizei über 250 Meldungen eingegangen; eine heiße Spur war nicht dabei. Die Herkunft des Thalliums blieb so ungeklärt wie die Identität der Täter. Nachdem die Ermittler anfangs von einem „hoch gefährlichen Geisteskranken“ ausgegangen waren, sagte nun der damalige Chef der Würzburger Staatsanwaltschaft, Hermann Heß, dass die Giftmörder auch „ganz normal“ sein könnten und die Studenten „ganz bewusst“ vergiftet haben könnten. Ein wichtiges Beweismittel, der Zettel, der den am Hörsaal abgestellten Flaschen beigelegen hatte, war verschwunden. Eine Studentin hatte ihn weggeworfen, die Durchsuchung riesiger Müllberge hatte ihn nicht wieder zutage gebracht.
Anfang März 1983 waren fast alle Thallium-Opfer aus der Klinik entlassen. Fast alle ohne bleibende Schäden. Peter S., der mit dem vergifteten Bier die fünffache tödliche Dosis des Schwermetalls aufgenommen hatte, wurde erst zehn Monate nach dem Anschlag aus der Würzburger Uniklinik in ein Reha-Zentrum überwiesen. 1993, zehn Jahre nach der Tat, mit 31 Jahren, konnte der Mann immer noch nicht ohne Rollator laufen. Zu stark geschädigt war sein Sinn für Gleichgewicht und Bewegungskoordination. Die Hoffnung, irgendwann sein Jura-Studium wieder aufnehmen zu können, hatte er damals noch nicht aufgegeben.
Ihr Sohn werde „nie verwinden können, dass sein Leben für immer zerstört sein soll und ihm die Schönheiten des Lebens versagt bleiben“, schrieb seine Mutter in einem offenen Brief an die Mörder. Peters Freundeskreis sei „klein geworden, viele haben ihn vergessen“. Das Schreiben endet so: „Auch wenn Sie irdischen Richtern entfliehen können, vor Gott müssen Sie Rechenschaft ablegen.“
Anfang 1984, ein Jahr nach dem Anschlag, war die Sonderkommission schon aufgelöst. 735 Spuren hatte sie verfolgt. Unzählige Vernehmungen gemacht. Zwölf Thallium-Hersteller im In- und Ausland und 29 Vertreiber des Schwermetalls überprüft. 400 Betriebe, in denen jene Kronkorken verwendet wurden, mit denen die vergifteten Flaschen verschlossen waren, in die Ermittlungen einbezogen. 200 Gemeinden und Obstbauvereine angeschrieben, um Hinweise auf Flaschenverschlussanlagen zu bekommen.
Das Ergebnis: keine Spur von den Tätern, kein Hinweis auf ein Motiv. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein, die 25 Ordner umfassende Akte wurde geschlossen. „Es hat sich kein verwertbarer Tatverdacht ergeben“, erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt Hermann Heß. In Würzburg fragten Schüler eines Deutsch-Leistungskurses Passanten auf der Straße, was sie „mit dem Begriff Thallium“ verbinden. 60 Prozent der Befragten sagten „nichts“. Die Gymnasiasten waren entsetzt.
Für Martin Hinterseer ist ein kurz vor den Anschlägen erschienener Artikel in einer medizinischen Fachzeitschrift der „geistige Urheber“ der Verbrechen. Der Kriminalhauptkommissar war Sachbearbeiter des Thallium-Falls. „Die Auswirkungen des Gifts waren in der Abhandlung verharmlosend dargestellt“, erinnert er sich, „hauptsächlich ging es um Haarausfall.“ Der Ermittler glaubt nicht, dass die Anschläge Todesopfer fordern sollten. „Wenn alles so funktioniert hätte, wie die Täter sich das dachten, hätten die Opfer an Fasching einfach nur mit Glatzen dagestanden.“ Hinterseer ist überzeugt, dass nicht ein Einzelner die Anschläge verübt hat: „Allein die Menge an Flaschen, die vor dem Hörsaal abgestellt waren, hätte eine Person gar nicht durch das übersichtliche und hellhörige Treppenhaus tragen können, ohne aufzufallen.“ Er vermutet, dass die Täter aus dem „studentischen Milieu“, auf jeden Fall aber „aus dem Umfeld der Universität“ kamen.
Im August 2009, 26 Jahre nach dem Thallium-Anschlag, wurde in Landshut der Arzt Wolfgang R. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Orthopäde hatte 2008 einen wohlhabenden Beamten getötet, um an dessen Geld zu kommen.
1983, als die Giftanschläge passierten, war Wolfgang R. Arzt in Würzburg. Im Landshuter Prozess erzählte seine damalige Geliebte Monika J., was er zu dem Thallium-Fall gesagt haben soll: Der Täter habe „nur mal ausprobieren“ wollen, „was dabei herauskommt“, wenn man Getränken Thallium zusetzt.
Die Frau ist überzeugt, dass „Dr. Tod“, wie die Zeitungen Wolfgang R. nannten, ihr 1983 nach dem Leben getrachtet hatte. Tatsache ist, dass sie damals mit schweren Vergiftungserscheinungen in eine Klinik eingeliefert worden war. Auch bei einer Ex-Ehefrau von Wolfgang R. und einer Arzthelferin sollen Vergiftungszeichen aufgetreten sein. Ob Thallium im Spiel war, ist nicht bekannt. Laut einem Aktenvermerk der damaligen Chefs von Wolfgang R. hielten sie es für möglich „dass etwas Derartiges vorliegen könnte“. Der Anschlag auf Monika J. wurde 1986 aus Mangel an Beweisen zu den Akten gelegt.
Wolfgang R. ist ein gefährlicher Mann. 1984 hatte er den Vermieter seiner Praxis im Odenwald betäubt und ihm dann einen Schnitt in die Nase versetzt. Der Hausherr erstickte an seinem eigenen Blut. Anschließend setzte der Arzt seine Praxis in Brand, um die Versicherungssumme zu kassieren. 1987 wurde ihm in Darmstadt der Prozess gemacht. Bevor er verurteilt wurde, nahm er im Gericht eine Geisel, war zwei Tage auf der Flucht. Dann wurde er gefasst, zu lebenslanger Haft verurteilt, im Jahr 2003, nach 15 Jahren, entlassen. Er arbeitete wieder als Arzt, dann erschoss er den Beamten.
Die Würzburger Sonderkommission hat auch Wolfgang R. überprüft. Aber er hatte ein Alibi. „Als die vergifteten Flaschen abgestellt wurden, war er stationär in einer Klinik“, sagt Hinterseer. Die meisten überlebenden Opfer des Thallium-Anschlags wollten schon 1993 nicht mehr von Journalisten mit ihrem furchtbaren Erlebnis konfrontiert werden. Was aus Peter S. geworden ist, ist nicht bekannt. Martin Hinterseer denkt noch öfter an den Fall. „Man überlegt, ob man mit den modernen Ermittlungsmethoden, vielleicht mit einer DNA-Spur, weiter gekommen wäre“, sagt er. Im Kopf nimmt er den Thallium-Anschlag mit, wenn er bald in Pension geht.
Zeugen gesucht: Wer kann zur Aufklärung der Thallium-Anschläge beitragen? Wer Hinweise liefern kann, wende sich an die Kripo Würzburg, Tel. (09 31) 4 57 17 32.