„Scherben“ von Arthur Miller ist ein Stück über die Verantwortung, die jeder Mensch für ein gelingendes Leben trägt. Ein Motiv, das bei Miller öfter auftaucht. Wobei mit Gelingen nicht unbedingt wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung gemeint sind. Im Gegenteil. Das ist der große Irrtum, dem viele Helden bei Arthur Miller erliegen, ob sie nun Willy Loman heißen oder Phillip Gellburg. Der eine ist Handlungsreisender, der über dem Leben auf der Straße vergessen hat, was Leben überhaupt bedeutet. Der andere ist Jude – in seinen Augen ein Makel, über den er nicht hinwegkommt.
Yves Jansens ebenso schlichte wie intensive Inszenierung von „Scherben“ für das Hamburger Ernst Deutsch Theater, die am Samstag und Sonntag am Schweinfurter Theater zu Gast war, konzentriert sich auf das Wesentliche: die großartig gespielten Personen.
Die Bühne von Peter Schmidt ist ein Podest, auf dem alle drei Schauplätze nebeneinander unterkommen: das Bett, in dem Sylvia Gellburg liegt, Phillips Frau, die ohne erkennbare körperliche Ursache seit zwei Wochen gelähmte Beine hat. Das Sprechzimmer der Arztes Dr. Hyman, der sie heilen soll – ein Tisch mit zwei Stühlen. Und das Büro von Phillips Chef, Mr. Case, eine Eckbank. Statisch stimmungsvolle Klänge von Arvo Pärt begleiten die Szenenwechsel.
New York, 1938. Henry Arnold spielt den Phillip, unter dessen aggressiver Grundhaltung immer stärker blanke Unsicherheit durchschimmert. Ist er schuld an Sylvias Lähmung? Oder vielmehr: Gibt man ihm auch noch daran die Schuld?
Isabella Vértes-Schütter durchläuft als Sylvia die gegenläufige Entwicklung: Aus der genügsamen Hausfrau wird eine Anklägerin und Rächerin, die ganz zum Schluss dennoch bereit ist zu verzeihen.
Den Hintergrund der Bühne bildet das riesige Bild einer jener Villen, wie sie sich die Superreichen auf Long Island bauen – in aller Regel weiße Protestanten angelsächsischer Herkunft. Frank Jordan ist als Mr. Case die perfekte Verkörperung eines solchen Wasps – eines White Anglo-Saxon Protestant.
Phillip Gellburg hat sich als erster Jude in der Firma überhaupt von der Handelsschule auf Position zwei hochgearbeitet. Der Chef hält große Stücke auf ihn. Bis Phillip einen Fehler macht. Ein Konkurrent – ebenfalls Jude – schnappt Mr. Case eine begehrte Immobilie vor der Nase weg. Doch der Vorwurf einer jüdischen Konspiration entsteht einzig und allein in Phillips Kopf.
Derweil liegt Sylvia gelähmt in ihrem Bett und verschlingt fassungslos die Nachrichten der Repressalien der Nazis gegen die Juden in Deutschland. Ihre Schwester Harriet (Jasmin Wagner) begegnet – wie viele amerikanische Juden – dem Versinken Deutschlands im Rassenwahn mit Ungläubigkeit und Verdrängung.
Genügend äußere Probleme also, um Sylvia und Phillip vom eigentlichen Problem abzulenken: ihrer Ehe, die seit mindestens 20 Jahren eine Lüge ist. Doch Sylvias offenkundig seelisch begründete Erkrankung zwingt sie, sich schließlich doch der Realität zu stellen. Sie haben ihr Leben verpfuscht – jeder seins und jeder das des anderen. Phillip kompensiert seine mannigfaltigen Minderwertigkeitskomplexe mit cholerischer Autorität daheim und unterwürfigem Ehrgeiz in der Firma. Sylvia, die eigentlich Stärkere, gibt vor, die Schwächere zu sein, und hält Phillip ansonsten konsequent auf Distanz – dass der längst impotent ist, erleichtert die Sache.
Steffen Gräbner spielt den Arzt Hyman, der angesichts des schwierigen Krankheitsbilds und der Anziehung, die Sylvia auf ihn ausübt, schnell die professionelle Distanz aufgibt. Er wird so – ohne jegliche Sicherung – zum Katalysator einer Ehrlichkeit, deren erster Moment echter Wahrhaftigkeit auch der letzte sein wird: Sylvia kann wieder stehen, Phillip erliegt seinem zweiten Herzinfarkt. So sind denn zwei Menschen in dem Moment endgültig voneinander befreit, in dem sie zum ersten Mal bereit gewesen wären, aufeinander einzugehen.
Schuld daran ist allerdings nicht etwa ein missgünstiges Schicksal oder der durchaus vorhandene Antisemitismus der amerikanischen Gesellschaft. Schuld daran sind nur Sylvia und Phillip selbst.